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Text File | 1995-04-11 | 143.4 KB | 3,484 lines |
- Der nachfolgende Text enthält den Vorlagebeschluss Art. 100 GG
- aus dem Verfahren 2 Ns (Kl 167/90) , und ist als
- Diskussionsbeitrag zur momentan stattfindenden Diskussion über die
- Legalisierung von Haschisch / Marihuana zu sehen.
-
- ( das ist der Original-Text auf dem alle Meldungen zu diesem Thema
- beruhen , damit endlich jeder die gelegenheit hat sich von den
- Tatsachen zu informieren ! )
-
- Er wurde mir, mit freudlicher Genehmigung zur Veröffentlichung, in
- gedruckter Form, vom Landgericht Lübeck zur verfügung gestellt.
-
- Das elektronische erfassen des Schriftstückes, mittels Scanners
- und OCR-Software, übernahm kostenlos eine Computerfirma auf der
- C-Bit (deren Nahmen ich hier Aufgrund des Werbeverbotes in einigen
- Netzen nicht angeben kann (kann aber bei mir erfragt werden)).
-
- Für korrekturlesen , Formatieren und anschlie"sende konvertierung
- in reinen ASCI Text , sowie Splitting in 4 Teile zeichne ich mich
- persöhnlich verantwortlich!
-
- /*
- Wer die Sonderzeichen an seinen Rechner anpassen, bzw. wieder
- herstellen, möchte, möge bitte alle von mir benutzten
- Ersatzzeichen von einem Textprogramm wie folgt ersetzen lassen:
-
- Der Umlaut "ae" wurde durch die Zeichen-Kombination >ä< ersetzt,
- der Umlaut "oe" wurde durch die Zeichen-Kombination >ö< ersetzt,
- der Umlaut "ue" wurde durch die Zeichen-Kombination >ü< ersetzt,
- der Umlaut "sz" wurde durch die Zeichen-Kombination >"s< ersetzt,
- das "Pharagraphen-Zeichen" wurde durch die
- Zeichen-Kombination >§< ersetzt,
- der "Form-Feed" wurde durch die Zeichen-Kombination >"FF< ersetzt.*/
- /* für Transfer geändert */
-
- Eine weitere Verbreitung dieses Textes in elektronischer Form darf,
- ausser Auschnittweise zum bezugnehmen in eigenen Kommentaren, nur
- mit diesem vollstaendigen Originalvorspann erfolgen! bei
- verbreitung auf Papier entfaellt diese Beschraenkung , es muß
- jedoch in jedem falle auf das Aktenzeichen:
- Jz.
- - 713 Js 16817/90 StA Lübeck -
- --------------------------------
- - 2 Ns (Kl. 167/90) -
- verwiesen werden !
-
- Bei Anfragen bezüglich des Inhalts bitte an das Landgericht Lübeck
- wenden , Telefon: 04 51 / 3 71-0 , Telefax 04 51 / 3 71 15 19 !
-
-
-
- MfGüNuD
- Thomas
-
- ** THUNDER-BIRD the funny guy from Munster
-
- Thomas Wieckhorst / Kiefernweg 12 / 3042 Munster/Breloh 1
- t.wieckhorst@heather.hanse.de = via UUCP
- T.WIECKHORST@HEATHER.ZER = ZERBERUS-NETZ
- 05192/18848 = Telefon (21.00-03.00 Uhr MEZ)
-
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- "FF
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- Jz.
- - 713 Js 16817/90 StA Lübeck -
- --------------------------------
- - 2 Ns (Kl. 167/90) -
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- 1. Das Verfahren wirdausgesetzt.
-
- 2. Die Sache wird dem Bundesverfassungsgericht
- zur Entscheidung über die Frage vorgelegt. ob §§ 29
- Absatz 1 Nr. 1 (hier Handlungsalternative: abgeben)
- i.V.m. 1 Absatz 1 i.V.m. Anlage I (hier: Cannabisharz
- (Haschisch)) Betäubungsmittelgesetz vom 28. Juli 1981
- (BGBl. I S. 681: ber. S. 1187). zuletzt geändert durch
- das Strafverfahrensänderungsgesetz 1987 vom 27. Januar
- 1987 (BGBl. I S. 475) mit Art. 2 Absatz 1 i.V.m. Art.
- 1 Absatz 1; Art. 2 Absatz 2 S. 1 und Art. 3 Absatz 1
- (Gleichbehandlungsgrundsatz) Grundgesetz vereinbar
- ist.
- "FF
-
- -2-
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- G l i e d e r u n g :
- ---------------------
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-
- A. Zum Sachverhalt S. 5
-
- I. Verfahrensgeschichte S. 5
- II. Festgestellter Sachverhalt S. 5
-
- B. Zur rechtlichen Würdigung S. 9
-
- I. Verstoß gegen Art. 3 Abs.1 GG S. 10
- -----------------------------
- 1.) Zielsetzung des Betäubungsmittel-
- gesetzes S. 12
- 2.) Ergebnis der Beweisaufnahme zur
- Gefährlichkeit von Alkohol und
- Cannabisprodukten S. 15
- a) Die Sachverständigen S. 16
- b) Die konkreten Feststellungen zur
- Gefährlichkeit von Alkohol und
- von Cannabisprodukten S. 17
- (1) Wirkungsweisen des Alkohols S. 19
- (a) Körperliche und psychische
- Auswirkungen S. 19
- (b) Gesellschaftliche Auswirkungen S. 25
- (2) Wirkungsweisen der Cannabis-
- produkte S. 27
- (a) Allgemeine Wirkungen S. 27
- (b) Körperliche und psychische
- Auswirkungen S. 31
- (c) Gesellschaftliche Auswirkungen S. 36
- "FF
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- -3-
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-
- c) Zusammenfassung S. 43
- (1) Entscheidung des Schweizerischen
- Bundesgerichtes zur Gefährlichkeit
- von Cannabisprodukten S. 43
- (2) Gefährlichkeit von Cannabisproduk-
- ten im Verhältnis zu sonstigen
- Rauschmitteln S. 43
- (3) Konsequenzen bei exzessiven Ge-
- brauch von Cannabisprodukten S. 44
-
- 3.) Verfassungsrechtliche Konsequenzen
- aus den Feststellungen zu 2.) S. 45
- a) Anwendung von Art. 3 GG bei Straf-
- vorschriften S. 45
- b) Nichtannahmebeschluß des Bundesver-
- fassungsgerichts vom 17.Dez. 1969 S. 46
- c) "Keine Gleichbehandlung im Unrecht" S. 48
-
- II. Verstoß gegen Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz
- ---------------------------------------
-
- 1.) "Recht auf Rausch" als zentraler Sektor
- menschlicher Selbstbestimmung S. 49
- 2.) "Recht auf Rausch" und Selbst-
- schädigung S. 50
- 3.) "Recht auf Rausch" und Schranken-
- trias S. 51
- a) Das Verhältnismäßigkeitsgebot als
- Teil der Rechtsstaatlichkeit S. 52
- b) Das Verhältnismäßigkeitsgebot bei
- Strafnormen S. 53
- "FF
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- -4-
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-
- c) Konkrete Anwendung des Verhältnis-
- mäßigkeitsgebotes S. 54
- (1) Fehlprognose des Gesetzgebers S. 55
- (2) Ungeeignetheit S. 57
- (3) Erforderlichkeit S. 67
- (4) Verhältnismäßigkeit im engeren
- Sinne S. 69
- (a) Schaden-Nutzen-Analyse S. 69
- (b) Mangelnde Differenzierung des
- Gesetzgebers bei den sogenannten
- "weichen" und "harten" Drogen S. 76
- (c) Mangelnde Differenzierung des
- Gesetzgebers bei den einzelnen
- strafbaren Handlungsalternativen
- des Betäubungsmittelgesetzes S. 78
-
-
- III. Verstoß gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG S. 83
- -------------------------------------
-
-
- IV. Internationale Abkommen S. 85
- -----------------------
-
-
- V. Zinsammenfassung/Verfahrenskonforme
- -----------------------------------
- Auslegung S. 87
- ---------
- "FF
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- G r ü n d e :
- -------------
-
- A. Zum Sachverhalt
- ===================
-
-
- I.
-
-
- Die Angeklagte ist mit einem Urteil des Amtsgerichts in
- Lübeck, Strafrichters, vom 01. Oktober 1990 wegen vor-
- sätzlichen Vorstoßes gegen § 29 Absatz 1 Nr. 1 Betäu-
- bungsmittelgesetz zu einer Freiheitsstrafe von zwei
- Monaten verurteilt worden. Außerdem ist das asservierte
- Haschisch eingezogen worden.
-
-
- Die Angeklagte hat dieses Urteil mit ihrer Berufung in
- zulässiger Weise angegriffen und ihre Berufung wirksam
- mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft auf das Strafmaß
- beschränkt. Die Kammer hat das Verfahren gemäß Artikel
- 100 Abs. 1 Grundgesetz ausgesetzt und nach Maßgabe des
- Beschlußtenors zu Ziffer 2 dem Bundesverfassungsgericht
- zur Entscheidung vorgelegt.
-
-
-
- II .
-
-
-
- Durch die wirksame Beschränkung des Rechtsmittels auf das
- Strafmaß sind der Schuldspruch sowie die ihn tragenden
- tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts in Rechts-
- kraft erwachsen. Die Kammer ist hieran gebunden.
- "FF
-
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-
-
-
- 1. Zum Sachverhalt
- ---------------
- Zum Sachverhalt hat das Amtsgericht folgende Fest-
- stellungen getroffen:
- Am 17. April 1990 besuchte die Angeklagte ihren Ehe-
- mann in der Justizvollzugsanstalt in Lübeck. Ihr Ehe-
- mann saß dort in Untersuchungshaft wegen des Vorwurfs
- eines Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz. Bei
- der Begrüßung umarmte die Angeklagte ihren Ehemann. In
- diesem Augenblick übergab sie ihm ein Briefchen, das
- Haschisch enthielt. Ihr Ehemann steckte dies in die
- Hosentasche seines Jogging-Anzuges. Während der Dauer
- des bewachten Besuches steckte er das Briefchen mit
- dem Haschisch in den rechten Strumpf.
-
- Im Gegensatz zum Amtsgericht hat die Kammer festge-
- stellt, daß das übergebene Haschisch nicht 2 Gramm,
- - wie vom Amtsgericht festgestellt - sondern lediglich
- 1,12 Gramm wog. Da das Gewicht ein für die Schuld-
- zumessung relevanter Faktor ist, war die Kammer nicht
- an die entsprechenden -unzutreffenden- Feststellungen
- des Amtsgerichts gebunden,
-
- 2. Zur Person
- ----------
- Zur Person der Angeklagten hat die Kammer folgende
- Feststellungen getroffen:
-
- Die Angeklagte ist am 17. Juli 1963 in Telgte,
- Wahrendorf geboren. Sie hat noch einen jüngeren Bru-
- der. Ihre Eltern leben in Dortmund. Die Angeklagte hat
- nach ihrem Schulabschluß (Mittlere Reife) in einem
- Reisebüro eine Lehre als Reisebürokauffrau angefangen.
- Sie hat die Lehre jedoch nicht abgeschlossen. 1982 hat
- sie ihren späteren Ehemann kennengelernt
- und diesen am 21. Juni 1984 geheiratet. Dieser über-
- redete sie, ihre Lehre abzubrechen und ihren Lebens-
- unteihalt als Prostituierte zu verdienen. Dabei war
- "FF
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-
-
- ihr Ehemann als Zuhälter tätig. Im Jahre 1982 zogen
- die Angeklagte und Herr nach Lübeck. wo die An-
- geklagte seitdem in der Clemensstraße dem Gewerbe der
- Prostituion nachgeht. 1987 hatte die Angeklagte erst-
- mals Kontakt mit Rauschmitteln. Ihr Mann war zu diesem
- Zeitpunkt nach längerer Haftzeit entlassen worden und
- veranlaßte die Angeklagte zur Einnahme von Rauschmit-
- teln. Die Angeklagte, nahm sporadisch Haschisch und
- Amphetamin. Später nahm sie auch hin und wieder
- Kokain. In der Beziehung der Angeklagten zu ihrem Ehe-
- mann gab es erhebliche Probleme, die die Angeklagte
- zunehmend dazu veranlaßte, häufiger Rauschmittel zu
- nehmen, um die Probleme zu verdrängen. Dabei verwandte
- die Angeklagte Haschisch als Schlafmittelersatz.
- Nachdem ihr Ehemann eine Beziehung zu einer anderen
- Frau aufgenommen hatte, nahm der Drogenkonsum der
- Angeklagten drastisch zu. Sie war viel allein und
- wollte sich scheiden lassen. Eine Fehlgeburt brachte
- die Angeklagte in zusätzliche seelische Nöte. Mit
- Schlaftabletten, Haschisch und der Einnahme von Kokain
- versuchte sie des "inneren Chaos" Herr zu werden.
- Unter dem dominierenden Einfluß ihres Ehemannes
- handelte die Angeklagte in der Zeit vom 06. Juli 1989
- bis zum 06. September 1989 erlaubnislos mit den
- Betäubungsmitteln Haschisch, Amphetamin und Kokain.
- Anfang September 1989 wurde sie zusammen mit ihrem
- Ehemann und einer dritten Person bei dem Versuch,
- Rauschmittel von den Niederlanden nach Deutschland
- illegal und erlaubnislos einzuführen, von der
- niederländischen Polizei in Kerkrade gestellt und
- gefaßt. Die Angeklagte verbrachte knapp ein halbes
- Jahr in Untersuchungshaft und wurde am 21. Februar
- 1990 vom Amtsgericht Lübeck - Schöffengericht - wegen
- versuchter erlaubnisloser Einfuhr von Betäubungsmit-
- teln in nicht geringer Menge in Tateinheit mit vor-
- "FF
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-
-
-
- sätzlichem Handeltreiben mit Betäubungsmitteln in
- nicht geringer Menge zu einer Freiheitsstrafe in Höhe
- von einem Jahr und sechs Monaten verurteilt. Die Voll-
- streckung der Strafe wurde zur Bewährung ausgesetzt.
-
-
- Zur Strafzumessung und zur Frage der Bewährung hat das
- Amtsgericht in seinem Urteil vom 21. Februar 1990
- folgende Erwägungen angestellt:
-
- ßchuldmindernd fand Beachtung, daß die Angeklagte,
- obgleich gemeinschaftlich handelnd, so doch in einer
- gegenüber ihrem Ehemann etwas untergeordneten Rolle
- tätig war. Ferner hat das Gericht berücksichtigt, daß
- sie die Drogen auch eigenkonsumierte um hierdurch
- Probleme, die für sie in dem Prostituiertengewerbe be-
- standen, zu überdecken. Die hierdurch entstandene,
- wenn auch verminderte Abhängigkeit von Drogen hat das
- Gericht ebenfalls schuldmindernd berücksichtigt. Deut-
- lich unrechtserhöhend fand die deutliche Menge der Be-
- täubungsmittel, mit denen Handel getrieben wurde und
- die eingeführt werden sollten, Beachtung. Angesichts
- dieser Umstände hat das Gericht eine Freiheitsstrafe
- von einem Jahr und sechs Monaten als angemessen
- erachtet und gegen die Angeklagte verhängt.
-
-
- Das Gericht hat die Freiheitsstrafe gemäß § 56 Absatz
- 2 StGB zur Bewährung ausgesetzt. Die Angeklagte hat in
- dieser Sache bereits eine Untersuchungshaft von fast
- sechs Monaten erlebt. Dies hat sie zur überzeugung des
- Gerichts in dem Sinne erkennbar beeindruckt, daß sie
- sich künftig straffrei verhalten wird. In der Haupt-
- verhandlung machte sie deutlich, daß sie das von ihr
- begangene Unrecht bereut. Ihr war eine günstige
- Sozialprognose zu stellen, ferner gebot die Verteidi-
- gung der Rechtsordnung nicht die Vollstreckung der
- Strafe."
- "FF
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-
-
- Die Angeklagte nimmt keine Drogen mehr. Sie hat sich
- hierbei keiner Therapie unterzogen. Von ihrem Ehemann
- hat sie sich am 14. August 1991 scheiden lassen. Sie
- hat eine neue Beziehung zu einem anderen Mann aufge-
- baut, der nicht aus dem Zuhältermilieu stammt. Er ist
- als Blumenhändler tätig. Die Angeklagte hat sich mit
- diesem Mann verlobt und will demnächst heiraten. Sie
- ist immer noch als Prostituierte tätig, weil sie ihre
- Schulden abtragen will.
-
- Neben der Verurteilung durch das Amtsgericht Lübeck
- vom 21. Februar 1990 ist die Angeklagte weiterhin
- durch Urteil des Amtsgerichts Lübeck vom 19. Februar
- 1987 wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort vorbe-
- straft. Das Amtsgericht hat in seiner Entscheidung vom
- 19. Februar 1987 die Angeklagte zu einer Geldstrafe
- von 35 Tagessätzen zu je 45,00 DM verurteilt.
-
- B. Zur rechtlichen Würdigung
- =============================
-
- Aufgrund des festgestellten Sachverhalts hat sich die
- Angeklagte gemäß §§ 29 Absatz 1 Nr.1 i.V.m. 1 Abs. 1
- i.V.m. Anlage I (hier: Cannabisharz (Haschisch))
- Betäubungsmittelgesetz in der Handlungsalternative des
- Abgebens strafbar gemacht. Sie hat vorsätzlich
- Betäubungsmittel ohne Erlaubnis abgegeben.
-
- An einer Bestrafung der Angeklagten sieht sich die Kammer
- jedoch gehindert, weil nach ihrer überzeugung die hier
- zur Anwendung kommenden Vorschriften des
- Betäubungsmittelgesetzes nach Maßgabe des Beschlußtenors
- zu Ziffer 2 verfassungswidrig sind und eine verfassungs-
- konforme Auslegung dieser Vorschriften des Betäubungsmit-
- telgesetzes nicht in Betracht kommt (vgl. dazu unten V.).
- "FF
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-
-
- Demnach kommt es für die Bestrafung der Angeklagten
- darauf an, ob die vorliegend zur Anwendung gekommenen
- Vorschriften des Betäubungsmitteigesetzes mit den im
- Beschlußtenor zu Ziffer 2.) aufgeführten Artikel des
- Grundgesetzes vereinbar sind: Verstoßen §§ 29 Absatz 1
- Nr. 1 i.V.m. 1 Absatz 1 i.V.m. Anlage I (hier:
- Cannabisharz (Haschisch)) Betäubungsmittelgesetz in der
- Handlungsalternative des Abgebens gegen die im
- Beschlußtenor genannten Vorschriften des Grundgesetzes,
- dann darf die Kammer die Angeklagte nicht bestrafen. Sie
- ist freizusprechen, Sind die vorgenannten Vorschriften
- des Betäubungsmittelgesetzes hingegen mit dem Grundgesetz
- vereinbar, dann ist die Angeklagte zu bestrafen.
-
-
- Die Kammer legt daher mit folgenden Erwägungen gem. Art.
- 100 Absatz 1 Grundgesetz die Sache dem Bundesver-
- fassungsgericht zur Entscheidung vor:
-
-
-
- I. Verstoß gegen Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz
- --------------------------------------------
- (Gleichheitsgrundsatz)
- ----------------------
-
- Die Strafbarkeit gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 BtmG
- hängt in allen Handlungsalternativen davon ab. ob
- die Handlungen sich auf Stoffe und Zubereitungen
- beziehen, die in den Anlagen I bis III zu § 1 Abs.
- 1 BtmG aufgeführt sind. In diesen Anlagen I bis
- III sind weder Alkohol noch Nikotin aufgeführt.
- Hingegen sind in der Anlage I zu § 1 Abs. 1 BtmG
- Cannabis (Marihuana) und Cannabisharz (Haschisch)
- aufgeführt.
- "FF
-
- -11-
-
-
-
- Die Kammer ist der Auffassung, daß das Aufführen
- der Cannabisprodukte und das Nichtaufführen von
- Alkohol und Nikotin in den Anlagen I bis III zu §
- 1 Absatz 1 BtmG gegen den Gleichheitsgrundsatz des
- Artikel 3 Absatz 1 Grundgesetz verstößt.
-
-
-
- Nach einhelliger Meinung in der verfassungsrecht-
- lichen Literatur und Rechtsprechung (vergleiche
- Leibholz-Rinck-Hesselberger, BVerfG-Rechtspre-
- chungskommentar zum Grundgesetz, 6. Aufl., Bd.I,
- Artikel 3, Anmerkung 1 und 27 mit entsprechenden
- Hinweisen auf die Rechtsprechung des
- Bundesverfassungsgerichts) stellt Artikel 3 Absatz
- 1 Grundgesetz ein den Gesetzgeber bindendes
- Willkürverbot dar. Er verbietet dem Gesetzgeber
- wesentlich Gleiches willkürlich ungleich und
- wesentlich Ungleiches willkürlich gleich zu
- behandeln. Diese von Artikel 3 Grundgesetz
- geforderte Rechtsgleichheit führt nicht zu einer
- schematischen Gleichsetzung. Sie bedeutet nicht
- Identität, sondern nur verhältnismäßige
- Gleichheit. Der Gleichheitssatz ist erst dann
- verletzt, wenn sich ein vernünftiger, sich
- aus der Natur der Sache ergebender oder sonstwie
- sachlich einleuchtender Grund für die gesetzliche
- Differenzierung oder Gleichbehandlung nicht finden
- läßt, wenn also die Bestimmung als willkürlich
- bezeichnet werden muß (BVerfGE 1, 52; 3, 135; 9,
- 349; 13, 227/228; 42, 73; 59,97), wobei dem
- Gesetzgeber bei der Regelung der einzelnen Sach-
- "FF
-
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-
-
-
- verhalte eine weitgehende Gestaltungsfreiheit und
- ein weiter Ermessensspielraum zusteht. Dieser
- endet erst dort, wo die Gleich- oder
- Ungleichbehandlung der geregelten Sachverhalte
- nicht mehr mit einer am Gerechtigkeitsgedanken
- orientierten Betrachtungsweise vereinbar ist, wo
- also ein einleuchtender Grund für die gesetzliche
- Gleichbehandlung oder Differenzierung fehlt
- (BVerfGE 59, 97; 3, 136).
-
-
- Nach Auffasung der Kammer gibt es keinen einleuch-
- tenden Grund dafür, Cannabisprodukte in der Anlage
- I zu § 1 Absatz 1 BtmG aufzuführen und die Produk-
- te Alkohol und Nikotin nicht in die Anlagen zu § 1
- Absatz 1 BtmG aufzunehmen.
-
-
- 1.) Durch das Betäubungsmittelgesetz soll als Rechts-
- gut die Volksgesundheit geschützt werden. 1911
- wurde das bis dahin geltende Opiumgesetz umfassend
- novelliert, Es trat als "Gesetz über den Verkehr
- mit Betäubungsmitteln (BtmG) vom 22. Dezember 1971
- (BGBl I Seite 2092)" am 25. Dezember 1971 in
- Kraft. Im allgemeinen Teil der amtlichen
- Begründung des von der Bundesregierung
- eingebrachten Gesetzentwurfes (BT-Drs. 665/70)
- sind die Motive für die umfangreiche Novellierung
- festgehalten, Es heißt dort unter anderem:
- "FF
-
- -13-
-
-
-
- äls eine der Maßnahmen der Bundesregierung, die
- in einem umfassenden Aktionsprograpm zur
- Bekämpfung der Rauschgiftsucht vorgesehen sind,
- dient das Gesetz dem Ziel, der Rauschgiftwelle in
- der Bundesrepublik Deutschland Einhalt zu gebieten
- und damit große Gefahren von dem Einzelnen und der
- Allgemeinheit abzuwenden. Es geht darum, den
- einzelnen Menschen, insbesondere den jungen Men-
- schen vor schweren und nicht selten irreparablen
- Schäden an der Gesundheit und damit von der Zer-
- störung seiner Persönlichkeit, seiner Freiheit und
- seiner Existenz zu bewahren. Es geht darum, die
- Familie vor der Erschütterung zu schützen, die ihr
- durch ein der Rauschgiftsucht verfallenes Mitglied
- droht. Es geht darum, der Allgemeinheit den hohen
- Preis zu ersparen, den ihr die Opfer einer sich
- ungehemmt ausbreitenden Rauschgiftwelle ab-
- verlangen würden. Es geht schließlich darum, die
- Funktionsfähigkeit der Gesellschaft nicht gefähr-
- den zu lassen.....
-
-
- Ein besonderes Kennzeichen der Rauschgiftwelle ist
- die erhebliche Zunahme des Verbrauchs von indi-
- schem Hanf (Cannabis sativa) und des darin
- enthaltenen Harzes (Haschisch), Es handelt sich
- dabei um ein Halluzinogen, das nach der in der
- medizinischen Wissenschaft überwiegenden Meinung
- bei Dauergebrauch zu Bewußtseinsveränderungen und
- zu psychischer Abhängigkeit führen kann....
- Bei der Droge treten offenbar keine Entziehungs-
- syndrome auf, und es besteht nur eine geringe
- Tendenz, die Dosis zu erhöhen. Mit großer Wahr-
- scheinlichkeit ist davon auszugehen, daß die Droge
- eine Schrittmacherfunktion ausübt. Der Umsteige-
- "FF
-
- -14-
-
-
-
- effekt auf härtere Drogen zeigt sich besonders bei
- jungen Menschen. Praktisch vollziehen sie mit ihr
- den Einstieg in die Welt der Rauschgifte. Die
- exakten biochemischen Vorgänge, die sich im
- menschlichen Körper beim Genuß dieser Droge voll-
- ziehen sind noch weithin unbekannt...."
-
- Der Gesetzgeber ging also davon aus, daß mit dem
- Gesetz der Verkehr und die Kontrolle von Stoffen
- und Zubereitungen erreicht werden sollte, von
- denen der Gesetzgeber annahm, daß sie sowohl für
- den Einzelnen als auch für die Gemeinschaft gra-
- vierende Gefahren hervorrufen könnten. Dabei war
- er der Auffassung, daß das Gefahrenpotential so
- groß, sei, daß im Einzelfall die Vernichtung der
- Existenz einzelner Menschen zu befürchten sei und
- gesamtgesellschaftlich die Funktionsfähigkeit des
- Staates gefährdet, werden könnte. Dabei hat der
- Gesetzgeber nicht zwischen sogenannten harten
- Drogen (z.B. Kokain, Heroin) und sogenannten
- weichen Drogen (Cannabisprodukte) unterschieden,
- vielmehr ist der Gesetzgeber davon ausgegangen,
- daß die Cannabisprodukte "mit großer Wahr-
- scheinlichkeit" eine Schrittmacherfunktion für die
- anderen Drogen hätten.
-
- Bei den nachfolgenden Novellierungen des Betäu-
- bungsmittelgesetzes hat der Gesetzgeber diese
- Zielvorstellung im Kern nicht modifiziert. Er hat
- allerdings mit dem nunmehr vorliegenden
- Betäubungsmittelgesetz vom 28. Juli 1981 eine
- Akzentverschiebung vorgenommen, Danach ist neben
- der Strafverschärfung für schwere Rauschgiftkrimi-
- nalität die sozialtherapeutische Rehabilitation
- für abhängige Straftäter stärker in den Vorder-
- grund gerückt. In § 1 des Betäubungsmittelgesetzes
- "FF
-
- -15-
-
-
-
- von 1981 hat der Gesetzgeber den Anwendungsbereich
- des Betäubungsmittelgesetzes, auf die in den
- Anlagen I bis III genannten Stoffe und
- Zubereitungen begrenzt. Betäubungsmittel im Sinne
- des Gesetzes sind nur die in den Anlagen I bis III
- abschließend genannten Stoffe und Zubereitungen
- (System der Positivliste). Die in diesen Anlagen
- aufgeführten Stoffe und Zubereitungen sind Teil
- des Gesetzes. Sie können jedoch durch Rechts-
- verordnung geändert und ergänzt werden. Auf die
- Frage, ob hierin ein verfassungswidriger Verstoß
- gegen das Gewaltenteilungsprinzip und gegen
- Artikel 104 Absatz 1 Satz 1 Grundgesetz vorliegt
- braucht vorliegend nicht weiter eingegangen zu
- werden (vgl. Körner, Kommentar zum Betäubungs-
- mittelgesetz, 3. Auflage, § 1 Randn. 5 mit
- weiteren Nachweisen). In der Anlage I zu § 1
- Absatz 1 Betäubungsmittelgesetz sind auch Cannabis
- (Marihuana) und Cannabisharz (Haschisch) aufge-
- führt.
-
-
- 2.) Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist die
- Kammer der überzeugung, daß das Aufführen von
- Cannabisprodukten in dieser Liste und das Nicht-
- aufführen von Alkohol und Nikotin gegen Artikel 3
- Grundgesetz verstößt.
-
- Alkohol und Nikotin sind sowohl für den Einzelnen
- als auch gesamtgesellschaftlich evident gefähr-
- licher als Cannabisprodukte. Aus Gründen der Ver-
- einfachung beziehen sich die nachfolgenden Aus-
- führungen nur auf das Verhältnis des Genusses von
- Alkohol und Cannabisprodukten. Sie gelten aber
- auch entsprechend für das Verhältnis von
- Cannabisprodukten zum Nikotin.
- "FF
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- -16-
-
-
-
- a) Diese Auffassung der Kammer beruht auf den
- überzeugenden Darlegungen der Sachverständigen
- deren Meinungen sich die Kammer angeschlossen
- hat. Die Kammer hat die, Sachverständigen Herrn
- Dr. Barchewitz und Herrn Prof. Dr. Dominiak
- gehört.
-
- Herr Dr. Barchewitz ist Facharzt für
- Psychiatrie und seit 15 Jahren im Therapiebe-
- reich tätig. Zwei Drittel seiner fachlichen
- Tätigkeit hat er in Suchtkliniken zugebracht.
- Er hat auch fünf Jahre im Bereich der Kinder-
- und Jugendpsychiatrie gearbeitet. Seit 1986 ist
- er Leiter der Fachklinik für Suchtkrankheiten
- (Holstein-Klinik in Lübeck). Dort befinden sich
- überwiegend alkohol- und medikamentenabhängige
- aber auch anderweit drogensüchtige Personen.
- Herr Dr. Barchewitz verfügt auch über
- erhebliche Erfahrungen mit Drogenabhängigen.
- Diese gründen sich auf seine Erfahrungen
- während seiner gesamten beruflichen Tätigkeit.
-
-
- Der Sachverständige Prof. Dr. Dominiak ist
- Facharzt für Pharmakologie und Toxikologie
- sowie für klinische Pharmakologie. Er ist
- Direktor des Instituts für Pharmakologie der
- Medizinischen Universität zu Lübeck und hat
- sich insbesondere in jüngster Zeit intensiv mit
- Wirkungen von Rauschgiften auseinandergesetzt
- und beschäftigt. Er hat im Dezember 1991 auf
- einem Fachkongreß von Rechtsmedizinern in
- Lübeck ein umfassende5 ,Referat zu den toxischen
- und pharmakologischen Wirkungsweisen von Drogen
- (auch der Cannabisprodukte) gehalten und dabei
- die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse
- auf diesem Gebiet analysiert und aufgearbeitet.
- "FF
-
- -17-
-
-
-
- b) Aufgrund der Ausführungen der Sachverständigen
- und unter Berücksichtigung vielfältiger, allge-
- mein zugänglicher Literatur, die mit den Sach-
- verständigen und den Prozeßbeteiligten im
- Termin erörtert worden ist, ist die Kammer
- zusammenfassend zur Frage der Gefährlichkeit
- von Alkohol und Cannabisprodukten zu folgenden
- Feststellungen gekommen:
-
-
- - Die körperlichen Auswirkungen übermäßigen
- Alkoholkonsums erreichen fast alle Organe
- und Organsysteme und können diese schwer
- schädigen oder sogar zerstören, während
- Cannabisprodukte nur geringfügige körper-
- liche Wirkungen herbeiführen.
-
- - Nach dem Absetzen von Alkohol treten bei
- Alkoholabhängigen schwere körperliche Ent-
- zugserscheinungen auf, während
- bei Cannabisprodukten praktisch keine kör-
- perlichen Entzugserscheinungen beobachtet
- werden.
-
- - übermäßiger Alkoholkonsum kann schwere
- psychische Schäden bewirken, während
- bei Cannabisprodukten keine gravierenden
- psychischen Störungen zu erwarten sind und
- allenfalls mit einer geringfügigen psychi-
- schen Abhängigkeit gerechnet werden muß.
- "FF
-
- -18-
-
-
-
- - In der Bundesrepublik gibt es eine Vielzahl
- von Verbänden, speziellen Krankenhäusern und
- speziellen Therapien, die sich mit Alkohol-
- erkrankungen und Alkoholabhängigkeiten be-
- schäftigen, während
- es weder eine spezielle Therapie für Canna-
- biskonsumenten noch spezielle Krankenhäuser
- oder Verbände gibt, die sich um Cannabis-
- konsumenten kümmern.
-
- - In der Bundesrepublik einschließlich der
- neuen Bundesländer wird die Anzahl der Alko-
- holtoten auf 40.000 im Jahr geschätzt,
- während
- kein Fall (auch weltweit) bekannt ist. bei
- dem der Tod einer Person auf übermäßigen
- Konsum von Haschisch zurückzuführen ist. Es
- gibt keine letale Dosis für Haschisch.
-
- - Die wirtschaftlichen Folgekosten aufgrund
- des Alkoholkonsums werden in der Bundesre-
- publik auf jährlich 50 Milliarden DM ge-
- schätzt, während
- bei Cannabisprodukten entsprechende Zahlen
- nicht existieren.
-
- - Der Alkoholkonsum hat erhebliche Auswirkun-
- gen auf den Arbeitsplatz (Arbeitsunfälle
- Kündigungen, Krankheitsfälle, Einstellungen
- von Suchtberatern), während
- bei Cannabisprodukten entsprechende Beobach-
- tungen und Schätzungen nicht existieren.
-
- - Der Anteil von tödlichen Unfällen, die im
- Zusammenhang mit Alkohol stehen, wird in der
- Bundesrepublik auf 5O % geschätzt und die
- Zahl der Verkehrsunfälle unter Alkoholein-
- fluß mit Personenschäden auf gut 30.000 pro
- Jahr, während
- "FF
-
- -19-
-
-
-
- bei Cannabisprodukten auf keine entsprechen-
- den Beobachtungen oder Schätzungen zurückge-
-
- - Nach der polizeilichen Kriminalstatistik des
- Bundeskriminalamtes aus dem Jahre 1990 wur-
- den in diesem Zeitraum mehr als 140.000 Tat-
- verdächtige (knapp 10 % aller Tatverdächti-
- gen) registriert, die nach polizeilichem
- Erkenntnisstand bei der Tatausführung unter
- Alkoholeinfluß standen. Im Bereich der Ge-
- waltdelikte (z.B. Totschlag, Vergewaltigung,
- Sexualmord) liegt der Anteil der Tatverdäch-
- tigen unter Alkoholeinfluß über 36 %,
- während
- bei Cannabisprodukten entsprechende stati-
- stische Erhebungen nicht durchgeführt wer-
- den.
-
- Im einzelnen ist hierzu folgendes auszuführen:
-
- (1) Wirkungsweisen des Alkohols:
-
- (a) Körperliche und psychische Auswirkungen
-
- aa.)
- Alkoholintoxikationen reichen von leichter Geh-
- Störung, starker Gehstörung, Reflexlosigkeit bis
- zur Bewußtlosigkeit und Kreislaufinsuffizienz,
-
- bb.)
- Leichte Alkoholräusche (0,5 - 1,5) sind gekenn-
- zeichnet durch Herabsetzung der psychomotorischen
- Leistungsfähigkeit, allgemeine Enthemmung, Beein-
- trächtigung der Fähigkeit kritischer Selbstkon-
- "FF
-
- -20-
-
-
-
- trolle; mittelgradige Räusche (1,5 - 2,5) durch
- euphorische Glückstimmung oder aggressive Gereizt-
- heit, Verminderung der Selbstkritik, Enthemmung,
- Benommenheit, Psychomotorischer Unsicherheit, un-
- reflektierter Bestrebung, triebhafte Bedürfnisse
- zu befriedigen, Fehlen zielgerichteter Konstanz
- und Bereitschaft zu primitiven, vorwiegend
- explosiven Reaktionsweisen; schwere Rauschzustände
- (über 2,5) durch Bewußtseinsstörungen und Verlust
- realen Situationsbezuges, Desorientiertheit.
- illusionäre situative Verkennung, motivlose Angst,
- Gleichgewichtsstörungen hin bis zur Ataxie,
- Dysarthrie und Schwindel, Schädel-Hirn-Trauma,
- evtl. mit komplizierender intrakranieller Blutung.
-
-
-
- cc.)
- Die neuere Alkoholforschung läßt zehn psychopatho-
- logische Syndrome erkennen, die einzeln oder in
- verschiedenen Verbindungen auftreten (Störungen
- des Bewußtseins und der Motorik, Störungen der
- Orientierung, paranoid-halluzinatorisches Syndrom,
- manisches, gereizt-aggressives, depressives
- Syndrom, Angstsyndrom, Suizidalität, sexuelle
- Erregung, amnestisches Syndrom).
-
-
- dd.)
- Das Alkoholentzugssyndrom wirkt sich
- internistisch, vegetativ, neurologisch und
- psychisch aus.
- "FF
-
- -21-
-
-
-
- ee.)
- Es gibt kaum ein Organsystem, an dem nicht
- Syndrome oder Krankheiten gefunden wurden, die
- nicht mit dem Alkoholismus ursächlich in
- Verbindung zu bringen sind: z.B. Fettleber,
- chronische Lungenerkrankung, Traumata, Bluthoch-
- druck, Mangelernährung, Anämie, Gastritis,
- Knochenbrüche, Hiatushernie, Leberzirrhose,
- Magen-Darm-Geschwüre, chronischer Hirnschaden,
- Fettsucht, Herzkrankheiten, gastrointestinale
- Blutung, epileptische Anfälle, Diabetes,
- Harnwegsinfekt.
-
-
- ff .)
- Die alkoholische Leberzirrhose ist eine relativ
- häufige Erkrankung bei fortgeschrittenem Alkohol-
- mißbrauch. 30-50 % aller Leberzirrhosen sind auf
- den Mißbrauch zurückzuführen. Beschwerden sind
- Appetitlosigkeit, Müdigkeit, Depressivität. Es
- kommt gelegentlich zu Hautveränderungen. Die Haut
- ist pergamentpapierartig verdünnt und zeigt weiße
- Flecken. Körperbehaarung und Schambehaarung läßt
- nach. Potenz und Libido vermindern sich. Der
- schwere, alkoholbedingte Leberschaden führt über
- tiefere Bewußtseinstrübung zum Koma.
-
-
- gg.)
- Alkoholiker neigen zu mehr Infektionen der Luft-
- wege.
- "FF
-
- -22-
-
-
-
- hh.)
- Die akute Alkoholintoxikation, besonders bei chro-
- nischen Alkoholikern, löst typische Knochenmarks-
- veränderungen aus und stört somit das Immunsystem.
-
-
- ii.)
- Alkohol wirkt auf die Muskeln in der Weise, daß
- die Muskulatur schwillt, stark druckempfindlich
- und krampfanfällig ist.
-
-
- jj .)
- Alkoholismus verändert das Gehirn morphologisch
- und funktionell mit der weiteren Folge psychischer
- Veränderungen. 3 - 5 % der Alkolholiker werden vom
- sogenannten Wernicke-Korsakow-Syndrom befallen,
- das durch folgende Störungen gekennzeichnet ist:
-
-
- - Verlust des Altgedächtnisses, regelmäßig ver-
- bunden mit der Unfähigkeit, sich neue Gedächt-
- nisinhalte einsuprägen;
- - verminderte Fähigkeit der Reproduktion von
- Gedächtnisinhalten;
- - eindeutige Verschlechterung der Auffassungs-
- fähigkeit;
- - Verminderung der Spontanität und Initiative;
- - Störungen der Konzentrationsfähigkeit, der
- räumlichen Organisation und der visuellen und
- verbalen Abstraktion.
- "FF
-
-
- -23-
-
-
-
- kk.)
- 20 - 40 % aller Alkoholiker leiden an Polyneuropa-
- thie, die mit schmerzhaften Mißempfindungen,
- Kribbelparästhesien und Taubheitsgefühl beginnt.
- Danach kommt es zu ziehenden, brennenden und
- stechenden Muskelschmerzen mit Krämpfen und
- Muskelschwäche.
-
-
- ll.)
- Tremorerscheinungen sind bei Alkoholikern sehr
- häufig. Sie sind anfangs reversibel, später nicht.
- Das Leiden beginnt als feinschlägiger Tremor. Er
- setzt an den Händen ein, der sich später ausbrei-
- tet auf Zunge, Lippen, Augenlider, Kopf und Füße.
-
-
- mm.)
- Es gibt eine sogenannte Alkoholepilepsie bei
- chronischen Alkholikern, die früher keine latente
- Krampfbereitschaft aufgewiesen haben.
-
-
- nn.)
- Das Risiko, einen Schlaganfall zu erleiden, ist
- bei Männern mit einem hohen Alkoholkonsum um mehr
- als das Vierfache höher als bei Abstinenten oder
- bei geringem Konsum.
- "FF
-
- -24-
-
-
-
- oo.)
- Das sogenannte Alkoholdelir ist gekennzeichnet von
- Desorientiertheit in örtlicher, zeitlicher und
- situativer Hinsicht. Es bestehen Auffassungsstö-
- rungen und illusionäre Verkennungen. Die Wahr-
- nehmungsstörungen können zu einer gesteigerten
- Suggestibilität und Konfabulationen führen. Die
- Stimmung ist schwankend, gekennzeichnet durch
- Angst, Reizbarkeit und durch eine gewisse
- Euphorie. Typisch ist psychomotorische Unruhe mit
- nestelnden Bewegungen und Bettflüchtigkeit.
-
-
- pp.)
- Beim Alkoholiker gibt es verstärkt Eifersuchts-
- ideen und Eifersuchtswahn.
-
-
- qq.)
- Alkoholmißbrauch vor und während der Schwanger-
- schaft kann schwere Schädigungen des Embryos ver-
- ursachen. Für die Bundesrepublik wird eine jähr-
- liche Rate der Alkoholembryopathie von 1800 ge-
- schätzt. Deren wichtigsten Symptome sind Wachs-
- tumsdefizit, Minderwuchs, Untergewicht, statomo-
- torische und geistige Retardierung, Hyperaktivi-
- tät, Muskelhypotonie, verkürzter Nasenrücken,
- schmale Lippen, auch Mißbildungen.
- "FF
-
- -25-
-
-
-
- (b) Gesellschaftliche Auswirkungen
-
- aa.) Anzahl der Alkoholabhängigen
-
-
- Die Anzahl der Alkoholabhängigen wird in der Bun-
- desrepublik bei einer Geschlechterrelation von 1
- (weiblich) zu 2 (männlich) auf 2,5 Millionen
- geschätzt.
-
-
-
- bb.) Wirtschaftliche Folgekosten
-
-
- Die gesamtwirtschaftlichen Folgekosten des
- Alkoholkonsums werden mit ca. 50 Mrd DM angegeben
- (vgl. H.H. Kornhuber, in Sonderdruck "Deutsches
- ärzteblatt" - ärztliche Mitteilungen, Heft 19
- Seite 1347 bis 1362 vom 12. Mai 1988, im
- Sonderdruck Seite 2).
-
-
- cc.) Auswirkungen auf dem Arbeitsplatz
-
-
- 25 % aller Arbeitsunfälle in der Bundesrepublik
- sind auf Alkohol zurückzuführen. Bei jeder 6. Kün-
- digung geht es um Alkohol, Alkoholkranke sind 2,5
- mal häufiger krank als andere Mitarbeiter. In über
- 800 Betrieben und Behörden werden schon Suchtbera-
- ter eingesetzt (vgl. Jahrbuch der Sucht 1991,
- Deutsche Hauptstelle gegen die Suchtgefahren,
- Seite 29).
- "FF
-
- -26-
-
-
-
- dd.) Auswirkungen im Straßenverkehr
-
- Unter Berücksichtigung von Dunkelzifferrelationen
- wird der Anteil von tödlichen Unfällen, die im
- Zusammenhang mit Alkohol stehen, auf 5O % ge-
- schätzt (vgl. Stephan in Jahrbuch der Sucht 1991,
- a.a.O., Seite 106, 107). Die Zahl der Verkehrs-
- unfälle unter Alkoholeinfluß mit Personenschaden
- wird auf gut 30.000 pro Jahr geschätzt.
-
-
- ee.) Alkoholtoten
-
- Die Zahl der Alkoholtoten wird in Deutschland
- einschließlich der neuen Bundesländer mit ca.
- 40.000 jährlich angegeben.
-
- ff.) Auswirkungen auf strafbare Handlungen
-
- Nach der polizeilichen Kriminalstatistik des Bun-
- deskriminalamtes aus dem Jahre 1990 wurden in
- diesem Zeitraum 141.180 Tatverdächtige (= 9,8 %
- aller Tatverdächtigen) registriert, die nach poli-
- zeilichem Erkenntnisstand bei der Tatausführung
- unter Alkoholeinfluß standen (vgl. Polizeiliche
- Kriminalstatistik des Bundeskriminalamtes 1990,
- Seite 85). Die Wirkung des Alkohols, die Gewalt-
- bereitschaft zu erhöhen, wird besonders deutlich,
- wenn der Anteil der Tatverdächtigen unter Alkohol-
- einfluß in bestimmten von Gewalt geprägten
- Deliktsgruppen untersucht wird. So betrug der An-
- teil der Tatverdächtigen unter Alkoholeinfluß bei
- "Widerstand gegen die Staatsgewalt" 63,3 %. Bei
- anderen Gewaltdelikten ergeben sich folgende
- Zahlen:
- "FF
-
- -27-
-
-
-
- - Totschlag: 47,4 %
- - Körperverletzung mit tödlichem Ausgang: 41,4 %
- - Vergewaltigung: 36,6 %
- - Vergewaltigung überfallartig durch Gruppen: 50 %
- - gefährliche und schwere Körperverletzung: 33,9 %
- - Mord: 29,1 %
- - Sexualmord: 46,7 %
- - vorsätzliche Brandstiftung: 29,1 %
- - sexuelle Nötigung: 28 %
- (vgl. Polizeiliche Kriminalstatistik, a.a.O.,
- Seite 85).
-
-
- Diesen katastrophalen und verheerenden Wirkungen
- individueller und gesamtgesellschaftlicher Art
- stehen folgende Wirkungen des Haschischkonsums
- gegenüber:
-
-
- (2) Wirkungsweisen der Cannabisprodukte:
-
- (a) Allgemeine Wirkungen
-
- Zu den allgemeinen Eigenschaften der Droge hat die
- Kammer folgende Feststellungen getroffen:
-
- Der Hauptwirkstoff der Cannabisprodukte ist das
- THC, genauer das Tetrahydrocannabinol, Das THC
- wird im natürlichen Cannabis durch eine Fülle
- weiterer Wirk- und Duftstoffe ergänzt. Unter den
- 60 weiteren Cannabinoiden ragen hervor das
- Cannabidiol (CBD), das beruhigend (sedativ) wirkt,
- gelegentlich auch für Kopfschmerzen sorgen,
- "FF
-
- -28-
-
-
-
- aber auch die THC-Wirkung verlängern soll, sowie
- das Cannabinol (CBN), ein Abbauprodukt des THC
- (vgl. Quensel in: "Drogen und Drogenpolitik", Ein
- Handbuch, herausgegeben von Sebastian Scheerer u.
- Irmgard Vogt, Campus 1989, Seite 380 m.w.N.).
-
-
- Cannabis wird bei uns üblicherweise geraucht und
- zwar meist zusammen mit Tabak als "Joint" oder
- aber in der Pfeife. Neben der in der Forschung
- häufigeren Injektion und dem Einatmen von Canna-
- bisdampf, kann man Cannabis auch als "Tee" trinken
- oder aufgelöst im Tee, als Gewürz im Essen, aber
- auch als Gebäck zu sich nehmen (vgl. Quensel,
- Drogen und Drogenpolitik, a.a.O., Seite 380). Das
- THC wird über die Schleimhäute aufgenommen und im
- Körper zu "Metaboliten" verwandelt. Seine Wirkung
- tritt beim Rauchen so rasch ein, daß die Dosishöhe
- meist relativ einfach zu regulieren ist; beim
- Essen und Trinken verzögert der Umweg über die
- Leber die Wirkung mitunter über eine Stunde,
- weswegen Anfänger aus Ungeduld leicht zu hohe
- Dosen einnehmen, Mit einer THC-Dosis von 2-10 mg
- beim Rauchen und etwa der dreifachen Menge beim
- Essen und Trinken, das ist nach THC-Gehalt etwa
- 0,5 bis 1 Gramm Haschisch, erreicht man eine
- Wirkungsdauer von etwa 1 - 4 Stunden (vgl.
- Quensel, Drogen und Drogenpolitik, a.a.0., Seite
- 381).
-
-
- Die kurz- wie langfristige Wirkung des Cannabis
- hängt -wie bei vielen anderen Drogen- ebenso davon
- ab, wieviel und wie häufig man es konsumiert, wie
- auch davon, in welchem ßet und Setting" dies
- "FF
-
- -29-
-
-
-
- geschieht, wobei alle Faktoren von einander abhän-
- gig sind. Dabei hängen Art und Weise des Erlebens
- von Cannabisprodukten in besonderer Weise vom ßet
- und Setting" ab, also von der Situation, in der
- man Cannabis einnimmt, vom eigenen persönlichen
- Zustand wie von der sozialen Umgebung, von den
- eigenen ängsten und Hoffnungen und den in der
- Gruppe wie in der umfassenderen Kultur mit diesem
- Genuß verbundenen Erwartungen (vgl. hierzu Quensel,
- Drogenelend, Campus 1982, Seite 76). Die Effekte,
- die mit der Einnahme von Cannabisprodukten ver-
- bunden sind, lassen sich sozial erlernen, wobei
- die Erwartungshaltung eine große Rolle spielt
- (vgl. Quensel, Drogen und Drogenpolitik, a.a.O.,
- Seite 381). Bei stärkerer Dosis, also insbesondere
- beim Trinken oder Essen oder bei der Verwendung
- von Haschischöl, sind eindeutigere halluzinogene
- Effekte zu erwarten (vgl. Quensel, Drogen und Dro-
- genpolitik, a.a.O., Seite 382). Nicht nur das
- Ausmaß der Dosis -etwa die Art und Weise, wie man
- einen "Joint" füllt- und Inhalte des Erlebens sind
- soziokulturell erlernt, sondern auch die Häufig-
- keit des Konsums, was als leichter bzw. schwerer
- Gebrauch gilt, zu welcher Gelegenheit man Cannabis
- konsumiert und wann man damit aufhören soll (vgl.
- Ouensel, Drogen und Drogenpolitik, a.a.0., Seite
- 382).
-
-
- Die psychischen Wirkungen beschreibt Binder
- (Haschisch und Marihuana, Deutsches ärzteblatt
- 1981, Seite 120) wie folgt:
- "FF
-
- -30-
-
-
-
- "Nach dem Rauchen von 1 Gramm Marihuana entsteht
- ein etwa drei Stunden dauernder Rauschzustand, der
- durch ein Gefühl von Losgelöstheit charakterisiert
- ist, das eine meditative Versenkung oder eine Hin-
- gabe an sensorische Stimuli erlaubt. Der Zustand
- ist im allgemeinen frei von optischen und akusti-
- schen Halluzinationen, die beim vier- bis fünf-
- fachen dieser Dosis auftreten können. Subjektiv
- gesteigert wird die Gefühlsintensität beim Hören
- von Musik, beim Betrachten von Bildern, bei Essen
- und Trinken und bei sexueller Aktivität. Der
- Rausch ist zweiphasig und geht nach der Anregungs-
- phase in eine milde Sedierung über. Bei der
- genannten Dosierung dominiert eine passive
- euphorische Bewußtseinslage, bei höherer Dosierung
- kann es zu paranoiden Vorstellungen und Dysphorie
- kommen.... Die Droge führt kaum zu Toleranzbildung
- und die Konsumenten kommen über Jahre ohne
- Dosissteigerung aus."
-
-
- Cannabis besaß bis in dieses Jahrhundert auch bei
- uns eine medizinische Bedeutung. Weltweit galt es
- stets als wichtiger Bestandteil der Volksmedizin
- (vgl. Ouensel, Drogen und Drogenpolitik, a.a.O.,
- Seite 382 m.w.N.). In neuerer Ze,it untersucht man
- die Wirkungen von Cannabis bei Glaukomen zur
- Verminderung des Augeninnendrucks, bei spastischen
- Krämpfen und Epilepsie sowie bei Asthma und
- Anorexia nervosa. Eine ganz besondere Bedeutung
- gewann es als Mittel gegen den Brechreiz bei
- Anti-Krebs-Mitteln. In den USA hat man deshalb 500
- Krankenhäusern THC zur Bekämpfung dieses Er-
- "FF
-
- -31-
-
-
-
- brechens praktisch freigegeben und in 23 Staaten
- diese Behandlung dem Ermessen jedes Arztes über-
- lassen (vgl. Ouensel, Drogen und Drogenpolitik,
- a.a.O., Seite 382 m.w.N.).
-
-
- Ein Blick auf Umfragedaten belegt, daß vornehmlich
- jüngere Menschen Cannabis konsumieren. Sie tun
- dies, um ihre Stimmung zu heben (34 %), um den
- Alltag zu vergessen (28 %), weil man sich
- entspannt (25 %), Hemmungen überwindet (24 %),
- intensiver hört und sieht (19 %), und weil man
- leichter Kontakt zueinander bekommt (17 %) (vgl.
- Quensel, Drogenelend, a.a.O., Seite 76 m w.N.).
-
-
- (b) Körperliche und psychische Auswirkungen
-
- aa.) Körperliche Auswirkungen
-
- Die körperlichen Auswirkungen des Cannabisge-
- brauches sind relativ gering. Herz und Kreislauf
- werden nicht beeinträchtigt, wenn auch der Puls
- aktiviert wird. Aus diesem Grunde besteht bei
- Personen mit Kreislaufschäden Anlaß, mit dem Ge-
- brauch von Cannabis vorsichtig umzugehen. Wissen-
- schaftliche Beweise dafür, daß der Konsum von
- Cannabis sowohl bei der Fortpflanzung als auch im
- Immunsystem Schäden hervorruft, sind bislang nicht
- vorgelegt worden. Der Sachverständige Prof. Dr.
- Dominiak hat darauf verwiesen, daß es zwar in
- Tierversuchen Hinweise für solche Wirkungen gebe,
- "FF
-
- -32-
-
-
-
- er hat jedoch eine übertragung der im Tierversuch
- gewonnenen Erkenntnisse auf den menschlichen Orga-
- nismus abgelehnt. Zur Begründung hat er angeführt
- daß der tierische Organismus häufig in ganz
- anderer Weise reagiere als der Mensch. Darüber
- hinaus werde gerade bei den typischen kleinen
- Säugetieren mit Dosen gearbeitet, die knapp unter-
- halb der bei Menschen praktisch nicht erreichbaren
- Todesdosis liegen. Schließlich fehle bei den
- Labor- wie Tierversuchen der Blindversuch, nachdem
- der Auswertende nicht wissen darf, welches Objekt
- Cannabis erhielt und welches nicht (vgl. hierzu
- Quensel, Drogen und Drogenpolitik, a.a.O., S.
- 385).
-
-
- Darüber hinaus kann das Rauchen von Cannabis zu
- Lungenschäden führen. Dieser mögliche Schaden ist
- jedoch im Vergleich mit dem Schaden, der durch das
- Rauchen selbst verursacht wird, eher zweitrangig.
- Da Haschisch aber auch in anderer Form konsumiert
- werden kann (durch Trinken im Tee; durch Essen im
- Kuchen) ist diese mögliche Schädigung der Lunge
- kein spezifisches Risiko des Cannabiskonsums,
-
-
- bb.) Psychologische Auswirkungen
-
- Es gibt derzeit keinen Beweis für den Abbau
- zerebraler Funktionen und Intelligenzleistungen
- durch chronischen Cannabisgebrauch. Jedoch ist die
- zur Intelligenzleistung notwendige Funktion des
- Kurzzeitgedächtnisses unter Einfluß von Cannabis
- "FF
-
- -33-
-
-
-
- reduziert (vgl. Schönhöfer, Die Pharmakologie der
- Cannabis-Wirkstoffe, in Arzneimittelforschung 23,
- 1973, Seite 55).
-
-
- Es gibt auch keinen medizinischen Hinweis, daß der
- Cannabiskonsum originär Psychosen hervorruft. Der
- Sachverständige Dr. Barchewitz hat ausgeführt, daß
- der Cannabiskonsum allenfalls eine bereits
- vorhandene Psychose zum Ausbruch bringen kann.
- Diese lediglich auslösende Funktion können auch
- andere Rauschmittel oder entsprechende Medikamente
- hervorrufen. Die eigentliche Schädigung in der
- Psyche hat nach den Angaben des Sachverständigen
- jedoch bereits vorher stattgefunden. Zu diesen
- Angaben des Sachverständigen paßt auch die bei
- Quensel (vgl. Drogen und Drogenpolitik, a.a.O.,
- Seite 387) getroffene Feststellung:
- "Zur Zeit gibt es keine zureichenden Gründe, die
- dafür sprechen, daß eine Cannabis-Psychose als
- besonderer klinischer Befund existiert". Der
- Sachverständige Dr. Barchewitz hat auf entspre-
- chenden Vorhalt diese Aussage bestätigt.
-
- Die Beweisaufnahme hat auch ergeben, daß das so-
- genannte. ämotivationale Syndrom" keine
- spezifische Folge des Cannabis-Konsums ist. Bei
- dem ämotivationalen Syndrom" handelt es sich um
- ein durch äpathie, Passivität und Euphorie
- gekennzeichnetes Zustandsbild". Der
- Sachverständige hat in übereinstimmung mit
- Schönhöfer (vgl. a.a.O., Seite 55) ausgeführt, daß
- es nicht möglich sei, eine kausale Beziehung
- zwischen dem Cannabisgebrauch und dem ämotiva-
- tionalen Syndrom" herzustellen. Schönhöfer
- "FF
-
- -34-
-
-
-
- hält hier vielmehr einen Umkehrschluß für zu-
- lässig. Nach seiner Meinung machen die Elemente
- des ämotivationalen Syndroms" erst das
- Rauscherlebnis des Cannabiskonsums interessant und
- bedingen somit diesen Konsum (vgl. Schönhöfer,
- a.a.O., S. 55). Auf diese Zusammenhänge hat auch
- der Sachverständige Dr. Barchewitz auf
- entsprechenden Vorhalt hingewiesen. Dies
- entspricht auch den Untersuchungen, auf die
- Quensel (Drogen und Drogenpolitik, a.a.O., Seite
- 388) verweist. In empirischen Untersuchungen ist
- nachgewiesen worden, daß Cannabiskonsumenten
- "weniger sorgfältig, weniger diszipliniert und
- nicht so strebsam" sind wie eine Kontrollgruppe,
- "was sich auch darin zeigt, daß sie signifikant
- weniger nach Erfolg strebt". Jedoch seien auch
- potentielle Konsumenten, die nicht strikt gegen
- Cannabis eingestellt gewesen seien, aber noch kein
- Cannabis konsumiert hätten, ßignifikant weniger
- karriere-orientiert... als die Antikonsumenten".
- Ouensel kommt daher zu der Auffassung, daß
- Cannabis eingebunden in einen größeren Lebensstil
- sei, der schon vor dem Konsum vorhanden gewesen
- sei und deswegen allenfalls als Symptom, jedoch
- nicht als dessen Ursache zu begreifen sei.
-
- Zusammenfassend lassen sich deswegen die Befunde
- zum psychischen Bereich wie folgt beschreiben:
-
- Nach derzeitigem Wissensstand sind keine
- gravierenden Störungen zu erwarten, wenn auch
- Personen mit Neigungen zu psychischen Störungen
- ebenso auf Cannabis verzichten sollten wie
- diejenigen, die sich damit sozial unerträglichen
- Situationen entziehen wollen.
- "FF
-
- -35-
-
-
-
- cc.) Körperliche Abhängigkeit
- Körperliche Entzugserscheinungen sind bei Cannabis
- -anders als bei Alkohol und harten Drogen- prak-
- tisch nicht zu beobachten. Der Sachverständige
- Prof. Dr. Dominiak hat hierzu ausgeführt, daß
- allenfalls -vergleichbar wie beim Absetzen der
- täglichen Kaffeedosis- leichte Schlafstörungen,
- Irritierbarkeit und innere Unruhe auftreten
- können. Auch seien Dosissteigerungen aus physiolo-
- gischen Gründen nicht festzustellen. Vielfach ist
- sogar beobachtet worden, daß erfahrene Konsumenten
- weniger Cannabis brauchen, um "high" zu werden als
- Anfänger (vgl. Quensel, Drogen und Drogenpolitik,
- a.a.O., Seite 389 m.w.N.).
-
- Die Sachverständigen haben darüber hinaus ausge-
- führt, daß allenfalls eine leichte psychische Ab-
- hängigkeit vorhanden sei. Diese sei aber nicht.
- anders einzustufen, als die, die beim täglichen
- Kaffeetrinken entstehe. Quensel (Drogen und
- Drogenpoltik, a.a.O., Seite 389) führt hierzu
- folgendes aus: "Eine Vorstellung von diesen
- Schwierigkeiten kann man gewinnen, wenn man an das
- eigene abendliche Glas Bier denkt, an den üblichen
- Morgenkaffee oder an die Leere, die entsteht, wenn
- man das Rauchen aufgibt -dieselbe Leere überfällt
- uns, wenn der Fernseher repariert werden muß, die
- Tageszeitung wegen Streiks fehlt, die Prüfung
- bestanden ist oder bei Arbeitslosigkeit oder
- Verrentung der alltägliche Arbeitstrott ausfällt."
-
- dd.) Tödliche Dosis
- Bei dem Cannabiskonsum gibt es im Gegensatz ,zum
- Alkohol, Nikotin und harten Drogenkonsum keine
- wissenschaftlich ermittelte letale (= tödliche)
- Dosis. Todesfälle die auf exzessiven Konsum
- zurückzuführen sind, sind bei Haschisch nicht
- bekannt.
- "FF
-
- -36-
-
-
-
- (c) Gesellschaftliche Auswirkungen
-
- aa.) Anzahl der Haschischkonsumenten
-
- Die Gesamtzahl der Konsumenten ist nicht bekannt.
- Die Angaben hierüber schwanken. Körner geht in
- seinem Kommentar zum Betäubungsmittelgesetz unter
- Berufung auf die Zeitschrift Suchtreport 1988,
- Heft 2 von ca. 3 bis 4 Mio Cannabisabhängigen aus
- (vgl.. Körner a.a.O., Einleitung Seite 9). In der
- Auskunft des Bundesgesundheitsamtes vom 21. Dezem-
- ber 1990 wird eine Zahl von mehreren Hunderttau-
- send und 1 bis 2 Mio angegeben. Der Drogenexperte
- Berndt Georg Thamm schätzt in seinem Buch "Drogen-
- freigabe-Kapitulation oder Ausweg ?" (Verlag
- Deutsche Polizeiliteratur GmbH, 1989) für die
- Bundesrepublik eine Anzahl von über 2 Mio. Konsu-
- menten von Cannabisprodukten (vgl. Thamm, a.a.O.,
- Seite 232).
-
- bb.) Haschischtherapie
-
- Es gibt keine spezielle Haschischtherapie und auch
- keine therapeutische Einrichtung für Haschischkon-
- sumenten. Dort wo Haschischkonsumenten einer
- psychologischen oder psychiatrischen Behandlung
- bedürfen, ist nach den Darlegungen des Sachver-
- ständigen Dr. Barchewitz der Haschischkonsum nicht
- die Ursache. Vielmehr steckt dahinter ein persön-
- liches Problem. Ist dies behoben, dann schwindet
- auch das Bedürfnis zum Konsum, da dieser körper-
- lich nicht bedingt ist.
- "FF
-
- -37-
-
-
-
- cc.) Auswirkungen auf strafbare Handlungen
-
- Im Gegensatz zum Alkohol und zu den sogenannten
- harten Drogen wird die polizeiliche Kriminalsta-
- tistik nicht unter dem Gesichtspunkt geführt, ob
- der Tatverdächtige die Tat unter dem Einwirken von
- Cannabiskonsum begangen hat. Es. gibt in der poli-
- zeilichen Kriminalstatistik hierzu keine statisti-
- schen Erhebungen. Daraus läßt sich entnehmen, daß
- dies für die Begehung von Straftaten kein relevan-
- ter Faktor ist. Dies verdient besondere Hervorhe-
- bung im Verhältnis zum Alkohol, weil der Alkohol
- häufig eine stimulierende Wirkung hat, die insbe-
- sondere die Bereitschaft zu Gewalttätigkeiten för-
- dert. Haschisch hat eine im Grundsatz umgekehrte
- Wirkungsweise. Der Konsum von Haschisch führt zu
- einer Hinwendung nach innen und begleitend dazu zu
- einem Rückzug von der äußeren sozialen Realität
- Dabei hat die Einnahme von Haschisch nach den Aus-
- führungen der Sachverständigen regelmäßig eine
- mehr beruhigende und einschläfernde Wirkung.
- Allerdings sei davon auszugehen, daß sich insbe-
- sondere diese Eigenschaften im Straßenverkehr
- nachteilig bemerkbar machen könnten.
-
- ff.) Einstiegsdroge
-
- Im Gegensatz zu den Motiven des Gesetzgebers bei
- der Neufassung des Betäubungsmittelgesetzes im
- Jahre 1971 steht zur überzeugung der Kammer nach
- den Ausführungen der Sachverständigen und der
- dabei erörterten und vorgehaltenen Literatur fest,
- daß Haschisch keine "Einstiegsdroge" für härtere
- Drogen ist und auch keine Schrittmacherfunktion
- entfaltet.
- "FF
-
- -38-
-
-
-
- Die Sachverständigen haben in übereinstimmung mit
- der Auskunft des Bundesgesundheitsamtes zunächst
- festgestellt, daß es keinen medizinischen und bio-
- ------------- ----
- logischen Auslöser für die Behauptung gibt, daß
- ---------
- Konsumenten sogenannter weicher Drogen auf harte
- Drogen umsteigen.
-
-
- Das Schweizer Bundesgericht hat sich in seinem
- Entscheid vom 29. August 1991 (vgl. Strafver-
- teidiger, 1992, Seite 18 ff.) mit der angeblichen
- Gefährlichkeit von Cannabisprodukten auseinander-
- gesetzt und dabei auch zur Einstiegstheorie bzw.
- zur Umsteigegefahr Stellung genommen. Dabei hat es
- den Sachverständigen Prof. Kind zitiert, der dar-
- gelegt hat, daß diese Behauptung (Einstiegsdroge)
- heute eindeutig widerlegt sei. Abschließend heißt
- es in der Entscheidung des Schweizer Bundesge-
- richts:
-
- "Der Gebrauch von Cannabis führt ferner keineswegs
- zwangsläufig zu jenem gefährlicherer Stoffe; nach
- neuesten Schätzungen greifen insgesamt etwa 5 %
- aller Jugendlichen, die Erfahrung mit Cannabis
- haben, zu härteren Drogen (Geschwinde, a.a.O.,
- Seite 44 N 166)."
-
- Auch Körner lehnt in seinem Kommentar zum Betäu-
- bungsmittelgesetz die Theorie von Haschisch als
- Einstiegsdroge ab. Es helßt dort (a.a.O., Anhang C
- 1, Seite 1070):
- "FF
-
- -39-
-
-
-
- Die Theorie von Haschisch als Einstiegsdroge ist
- kein überzeugendes Argument, weil der Weg zum
- Heroin ebenso häufig über Alkohol und Tabletten-
- konsum verläuft, ohne daß deshalb ein Verbot von
- Alkohol oder Tabletten zu fordern wäre."
-
-
- Die Kammer lehnt daher in übereinstimmung mit den
- Sachverständigen und den vorstehenden zitierten
- Autoren die Theorie von der "Einstiegsdroge" ab.
-
-
- Die Theorie von der sogenannten Einstiegsdroge
- wird von der (unzutreffenden) Denkschablone
- getragen, daß aus der Verwendung der Droge ein
- Drang nach Dosissteigerung logisch folge und
- dieser von der leichten zur starken Dosis führen
- müsse (vgl. hierzu Quensel, Drogen und Drogenpoli-
- tik, a.a.O., Seite 391). Dabei wird übersehen und
- unberücksichtigt gelassen, ob die Drogen in ihrer
- Wirkung miteinander vergleichbar sind und daß dann
- doch der leichte und beliebig steigerbare Alkohol-
- konsum als Alternative viel näher liegt (vgl.
- Quensel, Drogen und Drogenpolitik, a.a.O., S.
- 391).
-
- Es wurde bereits darauf verwiesen, daß der
- Cannabiskonsum in seiner Zielrichtung eine mehr,
- beruhigende und sedierende Wirkung hat, während
- zum Beispiel die Drogen Kokain und Heroin stark
- euphorisierende Auswirkungen haben. Diese Drogen
- stellen daher von ihrer Wirkungsweise keine Stei-
- gerung der Cannabisprodukte dar, sondern haben
- eine vielmehr entgegengesetzte, dem Alkohol
- ähnliche Wirkung. Deshalb fehlt es schon an
- "FF
-
- -40-
-
-
-
- einer den Umstieg tragenden subjektiven Zielvor-
- stellung, die darauf angelegt ist, die Wirkungs-
- weise des bisherigen Rauschmittels zu steigern.
- Darüber hinaus führt gerade der Konsum von
- Haschisch -wie bereits dargelegt- nicht zu einer
- Toleranzausbildung, die nach immer stärkeren Dosen
- drängt. Im Gegenteil: haschischgewöhnte Konsumen-
- ten werden regelmäßig mit einer niedrigeren Dosis
- "high" als Anfänger (vgl. oben S. 30).
-
-
- Darüber hinaus wird der Versuch unternommen, die
- Umstiegstheorie statistisch wie folgt zu begründen
- (vgl. dazu Täschner, Das Cannabis-Problem 1979,
- Seite 169; zitiert nach Kreuzer, NJW 1982. Seite
- 1311):
-
-
- üntersucht man andererseits aber klinisch-statio-
- när behandelte Drogenabhängige, meist
- Heroinsüchtige oder Polytoxikomane, so stellt man
- fest, daß sie ihre Drogenkarriere zu 98 bis 100 %
- mit Haschisch begonnen hatten."
-
-
- Kreuzer verweist in seinem Aufsatz auf Untersu-
- chungen von Prof. Keub, wonach diese Theorie in
- den USA ßchon längst tot war, als -scil. bei
- uns- die Drogenwelle 1968 begann". Kreuzer führt
- weiterhin aus, daß Prof. Keub in einer Studie
- nachgewiesen habe, daß Alkohol die Haupteinstiegs-
- droge sei und daß bei einem Drogenkongreß in Wien
- alle anwesenden Experten verschiedener Disziplinen
- die Einstiegstheorie verworfen hätten (vgl.
- Kreuzer, a.a.O., Seite 1311 Fußnote 9). Kreuzer
- führt in seinem Aufsatz auch weitere Unter-
- "FF
-
- -41-
-
-
-
- suchungen an, die für deutsche Verhältnisse die
- Unhaltbarkeit der Einstiegstheorie ergeben hätten
- (vgl. Kreuzer, a.a.O., Seite 1311 Fußnote 10).
-
- Darüber hinaus läßt sich die Einstiegstheorie auch
- anhand der statistischen Zahlen über die ge-
- schätzten Drogenabhängigen widerlegen. Der
- Pharmakologe Schönhöfer hat in seinem Aufsatz
- (a.a.O., Seite 54) die Umsteigetheorie an Zahlen,
- die für Amerika gelten, überprüft. Wörtlich heißt
- es: "Der Direktor des "Natonal Institute of Mental
- Health" schätzte in einem Hearing vor dem
- ßubcommittee to Investigate Juvenile Delinquency"
- am 17. September 1969 die Zahl der Jugendlichen
- Marihuana-Konsumenten in USA auf 8 bis 12 Mio. Im
- Mai und Oktober des gleichen Jahres
- veröffentlichte die "Washington Post" Gallup-Um-
- fragen, die die Zahl der Marihuana-Konsumenten mit
- rund 10 Mio angaben. Nach der hier in der Bundes-
- republik üblichen Umsteigertheorie müßten also
- heute rund 30 % dieser Menschen, mithin also 3
- Millionen Heroinsüchtige sein. Das ist nicht der
- Fall. Die Zahl der Heroinsüchtigen in den USA
- liegt bei 200.000 mit einer geschätzten Dunkel-
- ziffer gleicher Größe, also insgesamt bei 400.000.
- Das sind zwischen zwei bis vier, rund also
- höchstens 5 % der Marihuana-Konsumenten."
-
- Diese Zahlen belegen, daß ein Umstieg nur in
- geringem Umfange stattfindet. Sie entsprechen den
- Zahlen, die das Schweizer Bundesgericht zugrunde
- gelegt hat, und die auch auf die Bundesrepublik
- zutreffen. Nach den Ausführungen des Sachverstän-
- digen Dr. Barchewitz ist davon auszugehen, daß es
- in der Bundesrepublik ca. 100.000 Drogenabhängige
- "FF
-
- -42-
-
-
-
- gibt, die sogenannte harte Drogen konsumieren. Die
- Zahl der Haschischkonsumenten liegt -wie bereits
- dargelegt- zwischen 2 und 4 Mio.. Dieses krasse
- Mißverhältnis von Cannabiskonsumenten zu Konsu-
- menten "harter" Drogen beweist, daß offensichtlich
- kein kausaler Umsteigeeffekt vorhanden ist.
-
-
- Dies haben auch die von der Kammer gehörten Sach-
- verständigen ausdrücklich bestätigt. Sie haben
- vielmehr darauf verwiesen, daß eine Suchtkarriere.
- die einmal beim Heroin ende, typischerweise vom
- frühen Gebrauch von Nikotin oder Alkohol geprägt
- sei. Sie meinen daher, daß der Gebrauch dieser bei
- uns üblichen Konsumdrogen viel eher einen Ein-
- stiegseffekt aufweise. Darüber hinaus haben die
- Sachverständigen darauf hingewiesen, daß ein
- Umsteigeeffekt allenfalls durch den gemeinsamen
- illegalen Drogenmarkt erfolge. Sie haben hierzu
- ausgeführt, daß der Haschischkonsument die Droge
- vom gleichen Dealer bekomme, der auch über "harte"
- Drogen verfüge. Aus diesem ßozialen Kontakt"
- ergebe sich eine sehr viel größere Gefahr des
- Umsteigens als aus dem Konsum und den damit
- verbundenen Wirkungen (so auch Binder, a.a.O.,
- Seite 125).
-
-
- Die Kammer weiß aus einem Referat des Amsterdamer
- Strafrechtsprofessors Dr. Rüter, das auch insoweit
- in der Hauptverhandlung erörtert worden ist, daß
- gerade aus diesen Gründen die niederländische
- Drogenpolitik eine Trennung der Märkte von
- "weichen" und "harten" Drogen anstrebt.
- "FF
-
- -43-
-
-
-
- Die Einrichtung von sogenannten "Coffee-Shops", in
- denen Cannabis-Produkte zum Konsum frei ver-
- käuflich erworben werden können, ohne daß
- strafrechtliche Verfolgung zu befürchten ist, hat
- zum Ziel, den ßozialen Kontakt" des Konsumenten
- "weicher" Drogen zu "harten" Drogen beim Ankauf zu
- unterbinden. Deswegen müssen die Inhaber von
- "Coffee-Shops" mit Bestrafungen und Schließung
- ihrer Geschäfte rechnen, wenn sie "harte" Drogen
- verkaufen. Durch diese Trennung der Märkte wird
- nach Auffassung der Niederländer der mögliche
- Umsteigeeffekt, der durch den ßozialen Kontakt"
- mit dem gleichen Dealer bewirkt werden kann,
- erheblich reduziert.
-
- c) Zusammenfassend kann daher festgestellt werden.
- daß die individuellen und gesamtgesellschaftlichen
- Wirkungen von Haschisch denkbar gering sind.
-
- (1) Das Schweizerische Bundesgericht hat in seiner
- Entscheidung vom 29. August 1991 (a.a.O., Seite
- 19) hierzu folgendes festgestellt:
- "Nach dem gegenwärtigen Stand der Erkenntnisse
- läßt sich somit nicht sagen, daß Cannabis geeignet
- sei, die körperliche und seelische Gesundheit
- vieler Menschen in eine naheliegende und
- ernstliche Gefahr zu bringen."
-
- (2) Der Sachverständige Prof. Dr. Dominiak hat
- erklärt, daß Cannabis nach seiner Kenntnis das
- Rauschmittel mit den geringsten individuellen und
- gesamtgesellschaftlichen Wirkungen sei, das es zur
- Zeit auf der Welt gebe. Binder hat in seinem
- Aufsatz im Deutschen ärzteblatt (a.a.O., Seite
- 124) ausgeführt:
- "FF
-
- -44-
-
-
-
- "Medizinisch gesehen, dürfte der Genuß von ein bis
- zwei Joints Marihuana (ein bis zwei Gramm
- Marihuana, resorbierte THC-Menge 8-16 mg) pro Tag
- unschädlich sein, zumindest aber weniger schädlich
- sein, als der tägliche Konsum von Alkohol oder von
- 20 Zigaretten. Für alle drei Drogen gilt das
- Prinzip ßola dosis facit venenum" und somit wäre
- gegen den gelegentlichen Konsum von Marihuana im
- Grunde genau so wenig einzuwenden wie gegen das
- gelegentliche Glas Wein oder die gelegentliche
- Zigarette, Jede Droge im übermaß genossen, ist
- schädlich."
-
-
- (3) Soweit der exzessive Gebrauch von Cannabisproduk-
- ten bei bestimmten Risikogruppen zu bestimmten
- -nicht ernstlichen- Schädigungen führen kann. ist
- darauf hinzuweisen; daß dies grundsätzlich für
- fast alle Substanzen gilt, die der Mensch zu sich
- nimmt (Zum Problem ,der fehlenden Relation zwischen
- Extrem- und Normalkonsum aus sozialwis-
- senschaftlicher Sicht vgl. Kreuzer, a.a.O., S.
- 1312). Auch der exzessive Gebrauch von Zucker kann
- zu Schädigungen führen. Darüber hinaus haben
- zahlreiche rezeptpflichtige Schmerz-, Schlaf- und
- Beruhigungsmittel bei langandauernden, übermäßigen
- Konsum Sucht und schwere gesundheitliche Schäden
- mit teils tödlichem Ausgang zur Folge.
- Entzugstherapien bei Medikamentenabhängigkeit sind
- aufwendig. Medikamentenmißbrauch kann auch
- Psychosen auslösen. Auch nicht rezeptpflichtige
- Schmerzmittel und sogar Vitamine können bei
- übermäßiger Dosierung zu schweren Gesundheitsschä-
- den führen, Bei Aspirin drohen z.B. Magengeschwüre
- "FF
-
-
- -45-
-
-
-
- und Magenblutungen. übermäßige Vitamin A-Zufuhr
- z.B., wie sie durch die Einnahme von mehr als drei
- Multivitamin-Tabletten geschehe, überschreitet bei
- einer Leibesfrucht den Grenzwert und kann zu
- Fruchtschäden führen.
-
-
- 3.) Unter Berücksichtigung aller vorstehend festge-
- stellten Auswirkungsfaktoren von Alkohol auf der
- einen und Cannabisprodukten auf der anderen Seite
- steht zur überzeugung der Kammer fest, daß es
- unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten
- keinen sachgerechten und nachvollziehbaren Grund
- gibt, den Verkehr und Konsum mit Cannabisprodukten
- zu bestrafen und den von Alkohol straf los zu
- lassen. Die sachwidrige Differenzierung
- aufrechtzuerhalten, würde die fundierten
- all gemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen der
- Gesellschaft mißachten (vgl. BVerfGE 9, 349; 13,
- 228). Sachliche Gründe sind bei zusammenfassender
- Bewertung der von der Kammer getroffenen
- Feststellungen für die unterschiedliche Behandlung
- von Alkohol und Cannabisprodukten ßchlechterdings
- nicht mehr erkennbar" (vgl. BVerfGE 3, 136). Die
- Aufrechterhaltung dieser nicht mehr
- nachvollziehbaren Differenzierung würde einen
- Verstoß gegen das allgemeine Gerechtigkeits-
- empfinden darstellen (vgl. BVerfGE 3, 136).
-
-
- a) Dabei ist vorliegend noch gesondert zu berücksich-
- tigen, daß die hier festgestellte -aus der Sicht
- der Kammer-willkürliche Differenzierung noch
- strafbewehrt ist. Die Bewegungsfreiheit, die der
- Gesetzgeber im Rahmen des Artikel 3 Grundgesetz
- "FF
-
- -46-
-
-
-
- hat, wird dort zusätzlich eingeengt, wo er die
- Differenzierung mit dem härtesten Mittel staat-
- licher Sanktionen -nämlich mit dem Strafrecht-
- durchsetzen und absichern will (vgl. hierzu ins-
- besondere BVerfGE 39, 45 ff.). Die Strafnorm
- stellt gewissermaßen die ültima ratio" im
- Instrumentarium des Gesetzgebers dar. Hiervon darf
- er nur behutsam und zurückhaltend Gebrauch machen
- (vgl. BVerfGE 39, 47). Es ist daher aus
- verfassungsrechtlicher Sicht ein besonders stren-
- ger Maßstab an die Gründe zu legen, die den Ge-
- setzgeber zur Differenzierung bzw. zur Ungleich-
- behandlung bewegen. Dabei ist der Gesetzgeber
- gehalten, seine einmal gefaßten Prognosen bei der
- Schaffung eines Gesetzes fortlaufend zu überprüfen
- und die einmal gewonnenen Erkenntnisse veränderten
- Erkenntnissen anzupassen (vgl. BVerfGE 25, 13; 50,
- 335). Aufgrund der Ausführungen, die die
- Sachverständigen gemacht haben und denen die
- Kammer folgt, können die Einschätzungen, Bewertun-
- gen und Prognosen, mit denen der Gesetzgeber die
- Bestrafung von Cannabiskonsumenten ursprünglich
- begründet hat (vgl. oben S. 12-14), nicht mehr
- aufrechterhalten werden.
-
-
- b) Deshalb stehen auch die Gründe des Nichtannahmebe-
- schlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 17.
- Dezember 1969 der hier eingenommenen Rechtsauf-
- fassung nicht entgegen, Sie unterstützten vielmehr
- die hier vertretene Rechtsauffassung, weil das
- Bundesverfassungsgericht in den Beschlußgründen
- davon ausgeht, daß Art. 3 Absatz 1 GG verletzt
- ist, wenn eindeutig feststeht, daß Cannabispro-
- dukte mindestens genauso gefährlich sind wie der
- Alkohol. Das Bundesverfassungsgericht hat in einer
- Verfassungsbeschwerde (1 BvR 639/69) zur Verfas-
- sungsgemäßheit der Bestrafung von Cannabis-Kon-
- sumenten ausgeführt:
- "FF
-
- -47-
-
-
-
-
-
- "Der Gesetzgeber behandelt nicht wesentlich
- Gleiches ungleich, wenn er sich darauf beschränkt,
- das Aufkommen neuer Betäubungsmittel aus fremden
- Kulturkreisen zu verhindern, solange nicht eindeu-
- tig feststeht, daß die damit verbundenen gesund-
- heitlichen und sozialen Gefahren nicht größer sind
- als die des Mißbrauchs von Alkohol."
-
- Das Bundesverfassungsgericht ist in diesem
- Beschluß aus dem Jahre 1969 offensichtlich davon
- ausgegangen, daß es nicht eindeutig feststehe, daß
- die mit den Cannabis verbundenen gesundheitlichen
- und sozialen Gefahren genau so groß wie die des
- Mißbrauchs von Alkohol seien. Nach den Erkenntnis-
- sen, die die Kammer gewonnen hat, läßt sich eine
- solche Auffassung heute nicht mehr rechtfertigen.
- Die von der Kammer getroffenen Feststellungen be-
- legen, daß die gesundheitlichen und sozialen Ge-
- fahren, die mit dem Haschischkonsum verbunden
- sind, sogar ungleich geringer einzustufen sind als
- die, die mit dem Mißbrauch von Alkohol verbunden
- sind (so auch das Schweizer Bundesgericht in
- seinem Entscheid, a.a.O., S. 18). Diese
- Feststellungen führen auf der Grundlage der
- Rechtsauffassung des Bundesverfassungsgerichts in
- seinem Beschluß vom 17. Dezember 1969 zwangsläufig
- zu einem Verstoß gegen Art. 3 Absatz 1 GG.
- "FF
-
- -48-
-
-
-
- c) Letztlich läßt sich ein Verstoß gegen Artikel 3
- Absatz 1 GG nicht mit dem Hinweis verneinen, daß
- es "keine Gleichbehandlung im Unrecht" gebe. Es
- stellt im verfassungsrechtlichen Sinne kein
- ünrecht" dar, wenn der Gesetzgeber darauf
- verzichtet, den Konsum und Verkehr von Alkohol mit
- den Mitteln des Strafrechts zu kontrollieren. Dies
- ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. so
- daß nicht -unter verfassungsrechtlichen Gesichts-
- punkten- argumentiert werden kann, wenn der
- Gesetzgeber schon eine so gefährliche Droge wie
- Alkohol äkzeptiere", so sei er nicht gezwungen,
- weitere gefährliche Drogen gleichfalls zu äkzep-
- tieren". Im politischen Raum mag so argumentiert
- werden. Verfassungsrechtlich setzt Artikel 3
- Absatz 1 GG hier dem Gesetzgeber im Rahmen seiner
- politischen Ermessensspielräume Grenzen. Diese
- sind nach den vorstehenden Ausführungen in der
- hier zu beurteilenden Fallkonstellation verletzt.
-
-
- II. Verstoß gegen Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz
- --------------------------------------------
-
-
-
- Die Bestrafung der Abgabe von Cannabis-Produkten, die
- dem Eigenkonsum dienen, ist auch unvereinbar mit
- Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz, Artikel 2 Absatz 1
- Grundgesetz sichert die freie Entfaltung der Persön-
- lichkeit.
- "FF
-
- -49-
-
-
-
- 1.)Zu den grundlegenden Sektoren menschlicher Selbstbe-
- stimmung, die über Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz ge-
- schützt werden, gehört auch die verantwortliche Ent-
- scheidung darüber, welche Nahrungs-, Genuß- und
- Rauschmittel der Bürger zu sich nimmt. Rauschmittel
- sind mit der menschlichen Geschichte untrennbar
- verbunden. Sie sind so alt wie die Menschheit. Dem
- Kulturmenschen sind seit Jahrtausenden Drogen bekannt.
- Wildpflanzen wie der Cocastrauch, der Hanf und der
- Schlafmohn wurden zu Kulturpflanzen domestiziert. In
- der Zeit der ersten frühen Hochkulturen unterschied
- man bereits zwischen Pflanzendrogen, animalischen
- Drogen und Mineraldrogen. Je nach Wirkung und Anwen-
- dungsbereich wurden diese den Arzneidrogen, Gewürzdro-
- gen, Riechstoff-oder Räucherdrogen zugeordnet. Bereits
- in der Antike waren Drogen begehrte Handelsobjekte und
- dementsprechend gab es Bemühungen, den in der Regel
- lukrativen Drogenhandel unter Kontrolle zu bringen
- (vgl. hierzu Thamm, a.a.O., Seite 26; GEO-Wissen,
- Sucht und Rausch, Nr. 3, Seite 100). Die Geschichte
- der Drogen belegt auch, daß die Menschen, obwohl der
- Konsum von Drogen mit der Zeit auch erhebliche soziale
- und individuelle Probleme herbeiführte, auf den
- Gebrauch nicht verzichten konnten oder wollten. "Was
- den Alltag vergessen machte, haben sie sich
- einverleibt (vgl. GEO. a.a.O., Seite 100)." Der Rausch
- gehört daher, wie Essen, Trinken und Sex, zu den
- fundamentalen Bedürfnissen des Menschen. Je techni-
- sisierter, schneller und funktionaler eine Gesell-
- schaft aufgebaut ist, desto stärker wird das Be-
- dürfnis, aus dieser Umklammerung auszubrechen. In
- einer Konsumgesellschaft -wie der unserigen- ist der
- Wunsch nach dem Rausch auch eine Folge der gesell-
- "FF
-
- -50-
-
-
-
- schaftlichen Bedingungen und Freiheite.n. Der Rausch
- ist ein Mittel den von dieser Gesellschaft ge-
- schaffenen Zwängen zu entrinnen und im Rausch Zuflucht
- zu suchen.
-
-
- Die Kammer ist.daher der Auffassung, daß das "Recht
- auf Rausch" durch Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz im
- Rahmen der freien Entfaltung der Persönlichkeit als
- zentraler Sektor menschlicher Selbstbestimmung ge-
- schützt ist.
-
-
- 2.)Das "Recht auf Rausch" als grundrechtlich geschützte
- Position des Rechts auf freier Entfaltung der Persön-
- lichkeit gemäß Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz ist auch
- nicht deswegen aus dem Schutzbereich dieser Verfas-
- sungsvorschrift auszuscheiden, weil der exzessive
- Gebrauch zur Selbstschädigung führen kann. Es gehört
- nicht nur zum Schutzbereich, des Artikel 2 Absatz 1
- Grundgesetz in freier Selbstbestimmung zu entscheiden,
- ob mit einem bestimmten Verhalten eine Selbstgefähr-
- dung verbunden ist, sondern dies ist auch Ausdruck der
- in Art. 1 Abs. 1 S. 1 Grundgesetz geschützten
- unantastbaren Würde des Menschen. Zum Wesensgehalt der
- Unantastbarkeit menschlicher Würde gehört gerade die
- freie und selbstbestimmte Entscheidung über sich
- selbst. Dabei steht es dem Einzelnen frei, sich nicht
- "FF
-
- -51-
-
-
-
- nur selbst zu schädigen oder die Gefahr einer Selbst-
- schädigung in Kauf zu nehmen, sondern in der ver-
- fassungsrechtlichen Literatur wird sogar die Auf-
- fassung vertreten, daß das Recht auf Selbsttötung
- (also die schärfste Form der Selbstschädigung) zum
- Schutzbereich des Artikel 1 Absatz 1 Satz 1 Grund-
- gesetz gehört (vgl. Reihe Alternativkommentare.
- Kommentar zum Grundgesetz 1984, Artikel 1, Absatz 1
- Randnr. 55, Bearbeiter Denninger; zitiert:
- AK-Denninger). Der Gesetzgeber hat deswegen die
- Beihilfe zur Selbsttötung straflos gelassen.
-
-
- 3.)Gehört das "Recht auf Rausch" zum Schutzbereich des
- Art. 2 Absatz 1 Grundgesetz, dann ist eine
- Einschränkung nur dann verfassungsrechtlich zulässig,
- wenn diese durch eine der drei Schranken des Art. 2
- Abs. 1 Grundgesetz gedeckt ist (sogenannte
- Schrankentrias). Gemäß Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz
- ist die freie Entfaltung der Persönlichkeit nur
- insoweit geschützt, als dadurch nicht die Rechte
- anderer, die verfassungsgemäßige Ordnung oder das
- Sittengesetz verletzt werden. Vorliegend kommt nur die
- Schranke der "verfassungsmäßigen Ordnung" in Betracht.
- Der Eingriff in das Recht auf freie Entfaltung der
- Persönlichkeit wäre nur dann verfassungskonform, wenn
- das einschränkende Gesetz Bestandteil der
- verfassungsmäßigen Ordnung ist, d.h. es müßte formell
- und inhaltlich mit der Verfassung (außerhalb des Art.
- 2 Abs. 1 Grundgesetz) voll vereinbar sein (vgl. dazu
- BVerfGE 17, 313).
- "FF
-
- -52-
-
-
-
- Das strafbewährte Verbot der Abgabe von Haschisch zum
- Eigenkonsum steht mit einem tragenden Prinzip der Ver-
- fassung, dem Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit nicht
- in Einklang.
-
-
- a) Der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit verlangt
- -namentlich wenn er in Verbindung mit der allgemeinen
- Freiheitsvermutung zugunsten des Bürgers gesehen wird,
- wie sie gerade in Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz zum
- Ausdruck kommt-, daß der Einzelne vor unnötigen Ein-
- griffen der öffentlichen Gewalt bewahrt bleibt; ist
- ein solcher Eingriff in Gestalt eines gesetzlichen
- Gebots oder Verbots aber unerläßlich, so müssen seine
- -----------
- Voraussetzungen möglichst klar für den Bürger erkenn-
- bar umschrieben werden (BVerfGE 9, 147,149). Je mehr
- dabei der gesetzliche Eingriff elementare äuße-
- rungsformen der menschlichen Handlungsfreiheit be-
- rührt, desto sorgfältiger müssen die zu seiner Recht-
- fertigung vorgebrachten Gründe gegen den, grundsätz-
- lichen Freiheitsanspruch des Bürgers abgewogen werden.
- Das bedeutet vor allem, daß die Mittel des Eingriffs
- zur Erreichung des gesetzgeberischen Ziels geeignet
- --------
- sein müssen und den Einzelnen nicht übermäßig belasten
- ---------
- dürfen (BVerfGE 17, 314). Anders ausgedrückt: Grund-
- rechtsbegrenzungen dürfen nur unter strikter Wahrung
- des Verhältnismäßigkeitsgebotes erfolgen
- (Leibholz-RinckHesselberger, a.a.O., Art: 2 Rdz.38).
- "FF
-
- -53-
-
-
-
- Im Sinne dieser Verhältnisbestimmung muß die Grund-
- rechtsbegrenzung geeignet sein, den Schutz des Rechts-
- gutes zu bewirken, um dessentwillen sie vorgenommen
- wird. Sie muß hierzu erforderlich sein, was nicht der
- Fall wäre, wenn ein milderes Mittel ausreichen würde,
- und schließlich muß sie im engeren Sinne verhältnis-
- mäßig sein, d.h. in angemessenem Verhältnis zu dem
- Gewicht und der Bedeutung des Grundrechts stehen
- (Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundes-
- republik Deutschland, 18. Auflage, 1991, Seite 134
- Rdz. 318).
-
-
- b) Dabei ist eine weitere Verschärfung des Prüfungsmaß-
- Stabes angezeigt, wenn sich der Gesetzgeber zur
- Durchsetzung des von ihm erstrebten Verbotes einer
- Strafnorm bedient. Es ist bereits ausgeführt worden
- (vgl. oben Seite 45/46), daß die Strafvorschrift in
- der Skala der staatlichen Eingriffsmöglichkeiten an
- der Spitze steht. Die Strafvorschrift ist die ültima
- ratio" staatlichen Eingriffs (BVerfGE 39, 47). Sie
- befiehlt dem Bürger ein bestimmtes Verhalten und
- unterwirft ihn bei Zuwiderhandlung empfindlichen Frei-
- heitsbeschränkungen oder finanziellen Belastungen
- (BVerfGE 39, 70). Verfassungsgerichtliche Kontrolle
- solcher Vorschriften bedeutet daher die Prüfung. ob
- der mit dem Erlaß oder der Anwendung der Strafvor-
- schrift verbundenen Eingriff in die grundrechtlich
- geschützte Freiheitsphäre zulässig ist, ob also der
- Staat überhaupt oder in dem vorgesehenen Umfang
- strafen darf (BVerfGE 39, 70). Für die verfassungs-
- gerichtliche überprüfung hat dies zur Konsequenz,
- "FF
-
- -54-
-
-
-
- daß eindeutig feststehen muß, daß das Mittel des Ein-
- griffs (hier strafrechtliches Verbot der Abgabe von
- Haschisch zum Eigenkonsum) zur Erreichung des gesetz-
- geberischen Ziels geeignet ist und den Einzelnen nicht
- übermäßig belastet. Zweifel hieran führen nach dem
- Grundsatz "In dubio pro libertate" (vgl. AK-Denninger,
- a.a.O., vor Art. 1 Anm. 13 m.w.N.) dazu, daß der Ein-
- griff in die freie Entfaltung der Persönlichkeit gemäß
- Art. 2 Absatz 1 Grundgesetz verfassungswidrig ist.
-
-
- c) An diesen Grundsätzen orientiert gelangt die Kammer zu
- der Auffassung daß das Betäubungsmittelgesetz zumin-
- dest insoweit gegen Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz
- verstößt, als es Handlungen unter Strafe stellt, die
- im Einzelfall darauf abzielen, lediglich Eigen- und
- Fremdkonsum in geringem Umfang zu ermöglichen. Ob
- darüber hinaus unter dem Gesichtspunkt des Artikel 2
- Absatz 1 Grundgesetz sämtliche Handlungsalternativen
- des § 29 Absatz 1 Ziffer 1 Betäubungsmittelgesetz
- -soweit sie sich auf Cannabisprodukte beziehen-
- verfassungswidrig sind (insbesondere die Einfuhr und
- das Handeltreiben in nicht geringen Mengen), braucht
- in diesem Zusammenhang nicht entschieden zu werden
- (vgl. unten S. 78 ff). Das Verhältnismäßigkeitsgebot
- (= übermaßverbot) mit seinen 3 Komponenten
- (Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßig-
- keit) als Teil des Rechtsstaatsprinzips ist verletzt.
- Diese überzeugung stützt die Kammer auf folgende
- Argumente:
- "FF
-
- -55-
-
-
-
- Das Betäubungsmittelgesetz zielt im § 29 BtmG darauf
- ab, mit Hilfe des Strafrechts den Konsum und Verkehr
- mit Drogen zu kontrollieren. Dabei geht der Gesetz-
- geber entsprechend der bereits zitierten Zielvor-
- stellung hinsichtlich des Konsums und Verkehrs mit
- Cannabisprodukten davon aus, daß diese individuell und
- gesellschaftlich gefährlich seien und insbesondere den
- Weg "in die Welt der Rauschgifte" (=härtere Drogen)
- eröffneten.
-
-
- (1) Es ist bereits dargelegt worden, daß diese Ein-
- Schätzung und Bewertung des Gesetzgebers aus dem
- Jahre 1970, die bis heute nicht aufgegeben worden
- ist, nach den Erkenntnissen, die die Kammer
- aufgrund der sachverständigen Ausführungen ge-
- wonnen hat, nicht mehr haltbar ist. Die "Ge-
- schäftsgrundlage" bzw. der Ausgangspunkt für den
- Gesetzgeber ist entfallen. Verfassungsrechtlich
- ist der Gesetzgeber gehalten, bei Maßnahmen, die
- das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit
- gemäß Artikel 2 Absatz 1 Grundgesetz einschränken,
- zu überprüfen, ob die einmal unterstellten Aus-
- gangsbedingungen fortdauern. Dabei kann eine,
- aufgrund einer Fehlprognose ergriffene Maßnahme
- nicht schon deshalb als verfassungswidrig ange-
- sehen werden (vgl. BVerfGE 25, 13). Dem
- Gesetzgeber ist jedoch aufgegeben, dann, wenn sich
- die ursprüngliche Prognose als fehlerhaft erwiesen
- hat, der tatsächlichen Entwicklung Rechnung zu
- "FF
-
- -56-
-
-
-
- tragen und entsprechend der neuen Erkenntnir= d1e
- ursprünglich getroffene Maßnahme aufzuheben oder
- zu ändern (vgl, BVerfGE 25 13; 49 130).
-
- Diese verfassungsrechtlich gebotene Verpflichtung
- zur Flexibilität des Gesetzgebers hat im Betäu-
- bungsmittelgesetz auf der Ebene des einfachen
- Gesetzes eine besondere Ausprägung erfahren, in-
- dem in § 1 Absatz 2 und 3 der Verordnungsgeber
- unter bestimmten Voraussetzungen ermächtigt wird,
- die Anlagen I bis III zu ändern oder zu ergänzen.
- Dies gilt nicht nur für die zusätzliche Aufnahme
- -----------
- von Stoffen und Zubereitungen, sondern gemäß § 1
- Absatz 2 Satz 2 auch für solche Fälle in denen
- die Sicherheit und die Kontrolle des Betäubungs-
- mittelverkehrs aus anderen Gründen gewährleistet
- ist.
-
-
- Der Verordnungsgeber kann also auch Stoffe und
- Zubereitungen aus dem Anwendungsbereich des
- Betäubungsmittelgesetzes herausnehmen.
- ------------
-
- Unter Berücksichtigung der vorstehenden Ausfüh-
- rungen und der Feststellungen die die Kammer zur
- Gefährlichkeit des Cannabiskonsums getroffen hat,
- ist die Bestrafung des Abgebens von Cannabispro-
- dukten nicht mehr geeignet (im Sinne des Verhält-
- --------
- nismäßigkeitsgebotes), die ursprünglichen Motive
- des Gesetzgebers durchzusetzen. Eine Freiheits-
- "FF
-
- -57-
-
-
-
- begrenzung, die in den Schutzbereich von Art. 2
- Abs. 1 GG eingreift, ist nicht mehr verhältnis-
- mäßig -weil ungeeignet-, wenn sich die einmal
- zugrunde gelegten Annahmen nachträglich als falsch
- erweisen. Haben sich die ursprünglichen Annahmen
- als falsch erwiesen, dann ist der Gesetzgeber zu
- einer neuen Bewertung aufgerufen, und es kann erst
- danach die Frage beantwortet werden, ob das
- (nunmehr) gewählte Mittel geeignet ist, die
- angestrebte Zielvorstellung zu verwirklichen. Der
- festgestellte "Wegfall der Geschäftsgrundlage"
- (=Tatsachengrundlage des Gesetzgebers für seine
- Zielvorstellungen) führt verfassungsrechtlich zur
- Verfassungswidrigkeit der hier unter Strafe
- gestellten Einschränkung der Entfaltung der freien
- Persönlichkeit.
-
-
- (2) Aber selbst wenn davon ausgegangen wird, daß die
- vom Gesetzgeber angenommenen Ausgangsbedingungen
- noch immer zutreffen bzw. im Kern noch richtig
- sind, so trifft es nicht zu, daß es dem Gesetz-
- geber mit dem Mittel des Strafrechtes gelungen
- ist, den Konsum und Verkehr mit Cannabisprodukten
- zu kontrollieren. Das Mittel des Strafrechts ist
- ungeeignet, das gesetzgeberische Ziel zu
- ----------
- erreichen.
- "FF
-
- -58-
-
-
-
- In dem Buch "Drogenelend" schreibt der Autor
- Stephan Quensel zu der Frage, welchen Einfluß
- Strafandrohung und tatsächliche Gefahrenrisiken
- auf die Art und das Ausmaß des Konsums haben.
- folgendes (Quensel, Drogenelend, a.a.O., Seite 303
- Fußnote 79): "Wie wenig auch sonst die Tatsache
- und Höhe der Strafandrohung, der tatsächlichen
- Gefahrenrisiken der Droge und Art wie Ausmaß des
- Konsums miteinander zusammenhängen müssen, zeigt
- die Zunahme des Heroinkonsums trotz Gefährlichkeit
- und Strafrisiko, das Stagnieren von Alkohol- und
- Zigarettenkonsum bei Jugendlichen trotz Straf-
- losigkeit und der Rückgang des
- Amphetamin-Speed-Mißbrauchs trotz Straflosigkeit
- wegen seines hohen Gefahrenpotentials in Kanada
- (Final Report 1973, Seite 114), vgl. auch Hasleton
- (1979, Seite 133) und Logan (1980, Seite 339)."
-
-
- Ouensel verweist in diesem Zusammenhang auf
- Studien, die belegen, daß der Cannabiskonsum
- gleichermaßen in den Ländern stagniert, die ihre
- Sanktionen weiter verschärft haben, wie auch in
- solchen Ländern, die Bestrafung erheblich zurück-
- genommen haben (vgl. Quensel, Drogenelend, a.a.O.,
- Seite 79 m.w.N.). Er zieht daraus den Schluß, daß
- eine entsprechende Rücknahme der Bestrafung kaum
- zum Anstieg des Konsums führen wird und meint, daß
- der Anstieg, das Stagnieren sowie der Rückgang des
- Cannabiskonsums nicht durch die Kriminalpolitik
- selbst beeinflußt werde. Er steht vielmehr auf dem
- "FF
-
- -59-
-
-
-
- Standpunkt, daß dies in sehr viel deutlicherer
- Weise von Mode-, Werbungs-und Kultur-Einflüssen
- abhängig sei (vgl. Quensel, Drogenelend, a.a.O.,
- Seite 79).
-
-
- Wörtlich führt er hierzu aus:
-
-
- ßehr schön zeigen sich diese Zusammenhänge in der
- kleinen, durch die Literatur gut belegten Unter-
- suchung von 95 Personen, die 1974 in Toronto wegen
- Cannabis-Besitz zu verschieden hohen Strafen
- verurteilt und kurz darauf interviewt wurden
- (Erickson 1978). Im Gegensatz zur klassischen Ab-
- schreckungsthese waren dabei diejenigen, die höher
- bestraft wurden, wie auch vor allem diejenigen,
- die annahmen, daß sie noch einmal erwischt würden,
- eher dazu bereit, noch einmal Cannabis zu konsu-
- mieren (Seite 140); dies gilt auch im
- Folgeinterview nach einem Jahr: Obwohl 26 % der
- 90 % der ein zweites Mal Interviewten erneut
- bestraft wurden und sich die Gruppe ingesamt für
- "krimineller" hielt als beim ersten Interview
- (Erickson 1980, bespr. in Druglink Nr. 16, Seite
- 20). Die weitaus stärkere Abhängigkeit dieser Ent-
- scheidung vom jeweils sozio-kulturellen Kontext
- der Bestraften -der, in gleichsam umgekehrter
- Richtung, ebenfalls durch die Strafe bestimmt
- wird- erwies sich darin, daß im ersten Interview
- "FF
-
- -60-
-
-
-
- vor allem diejenigen weiterrauchen wollten die
- dies schon vor der Bestrafung häufiger getan und
- die in jüngerer Zeit damit begonnen hatten, sowie
- diejenigen die ihrerseits Freunde hatten die
- wegen derselben Tatsache schon einmal bestraft
- worden waren. Auch Nesdale (1980) fand in seiner
- experimentellen Studie daß für Drogengebraucher
- insgesamt geplante gesetzliche änderungen keinen
- Einfluß hatten, und das umgekehrt sogar die nicht
- Drogen gebrauchenden Männer einen gelegentlichen
- Drogengebrauch eher richtig fanden wenn ein ver-
- bietendes Gesetz zu erwarten war.
-
-
- Für die grundsätzliche Wirkungslosigkeit der
- Strafandrohung auf das Konsumverhalten sprechen
- auch die bereits dargestellten Schätzungen über
- die Anzahl der Cannabiskonsumenten. Bei Körner
- (a.a.O., Einl.S.9) findet sich folgende Beschrei-
- bung der Deutschen,Drogenszene auf das Jahr 1988
- bezogen:
-
-
- "in der Bundesrepublik Deutschland sind ca. 3 bis
- 4 Mio. Cannabisabhängige bekannt. Ca. 80.000 sind
- Abhängige harter Drogen wie Heroin, Kokain,
- Amphetamin. Jährlich erhöhen sich kontinuierlich
- die beschlagnahmten Mengen an Rauschmitteln. Die
- "FF
-
- -61-
-
-
- Anzahl der Drogentoten hat zunehmende Tendenz.
- 1988 waren es 673 Tote.... Die Drogenkriminalität
- ist kaum mehr in den Griff zu bekommen, Dabei
- überrascht, daß trotz Aidsgefährdung und öffent-
- licher Diskussion der Spritzeninfektion die Zahl
- der neuen Heroinkonsumenten nicht abnahm, sondern
- noch anstieg, also keine abschreckende Wirkung
- entfaltete. Dies wird erklärt mit einer sich
- ausbreitenden Neigung, sich ungehemmter dem
- Drogenmißbrauch hinzugeben. Der Konsument ent-
- scheidet sich für eine ßweet Short Life"- Lebens-
- Perspektive (Berger/Rollband/Widlitzek), Bei der
- Drogenarbeit geht es deshalb nicht mehr nur um die
- Behandlung der Drogensucht, sondern auch um die
- Aidsepidemie....
- Die Bundesrepublik ist zu einer Gesellschaft von
- Süchtigen geworden. Die Drogenszene ist ein
- Spiegelbild dieser Gesellschaft."
-
-
- Der Hamburger Drogenbeauftragte Horst Bossong hat
- in einem mit der TAZ geführten Interview (TAZ v.
- 18.09 1991) erklärt: "Wir haben jetzt 20 Jahre
- lang eine Drogenpolitik mit vergleichsweise
- niedrigen Erfolgen und mit sehr hohen Negativfol-
- gen gemacht. Wir sind in den 20 Jahren, in denen
- das Drogenproblem so massiv wurde, mit dem Betäu-
- bungsmittelgesetz nicht ein Stückchen weitergekom-
- men. Das Gesetz zielt ja darauf ab, den Konsum und
- Verkehr mit Drogen zu kontrollieren. Wir haben
- aber keinen vergleichbaren Bereich, wo wir trotz
- Gesetz so wenig Kontrolle über Handel und Konsum
- haben wie im Betäubungsmittelbereich... Ich
- "FF
-
- -62-
-
-
-
- glaube, wir werden uns langfristig darauf
- einstellen müssen, das Menschen Drogen nehmen, Das
- worauf wir uns nicht einstellen müssen, ist das
- Drogenelend. Aber um das zu beseitigen, wird man
- in Richtung Legalisierung denken müssen, denn
- sonst werden wir uns auch langfristig mit dem
- Drogenelend abfinden müssen. Wenn wir akzeptieren,
- die Drogensucht als einen Moment der Wirklichkeit
- wahrzunehmen, können wir vielleicht den Blick
- dafür öffnen, daß es auch Wege gibt, mit diesen
- Menschen human umzugehen. Konkret heißt das nicht
- nur die kontrollierte Abgabe von Heroin. Das ist
- nur der erste Schritt. Langfristig müssen wir wohl
- noch viel weiter gehen, denn es gibt keinen
- Anhaltspunkt dafür, daß wir die Probleme mit
- Verboten und Sonderregularien in Griff bekommen."
-
-
- In dem Gesetzentwurf des Bundesrates zur änderung
- des Betäubungsmittelgesetzes heißt es in der
- Begründung (Drucksache 12/934, 12. Wahlperiode,
- Seite 5):
-
-
- "Trotz allgemein verstärkter Anstrengungen aller
- beteiligten Institutionen, Einrichtungen und
- Personen ist es bislang nicht gelungen, auf der
- Grundlage der gegenwärtigen Konzeption des Betäu-
- bungsmittelrechts die weitere Ausbreitung des
- Betäubungsmittelmißbrauchs in der Bundesrepublik
- Deutschland entscheidend aufzuhalten oder gar
- wirksam zu bekämpfen, Stattdessen ist z.B. zu
- "FF
-
- -63-
-
-
- beobachten, daß -offensichtlich nach Sättigung des
- Nordamerikanischen Marktes-Betäubungsmittel
- verstärkt auf dem europäischen Markt drängen, die
- in der Vergangenheit eine eher untergeordnete
- Rolle gespielt haben (z.B. Kokain). Diese Ent-
- wicklung gibt Veranlassung, das bestehende
- Betäubungsmittelrecht einer überprüfung zu unter-
- ziehen und Vorschläge zu seiner Fortentwicklung
- vorzulegen."
-
-
- Der Senat der Hansestadt Hamburg hat in einer
- Mitteilung an die Bürgerschaft im Rahmen eines
- Konzeptes zur Drogenbekämpfung (Bürgerschaft der
- Freien und Hansestadt Hamburg, Drucksache 13/5196,
- 13. Wahlperiode, Seite 16) folgendes ausgeführt:
-
-
- "Mit polizeilichen und strafjustiziellen Maßnahmen
- ist es trotz ständiger personeller Verstärkung der
- Strafverfolgungsbehörden nicht gelungen, die
- illegale Einfuhr und den Handel mit Drogen ent-
- scheidend einzugrenzen und die Nachfrage auf einem
- geringen, Niveau zu halten, Die festzustellende
- -------------------
- Stagnation des Modekonsums weicher Drogen wie
- ---------------------------------------------
- Cannabis ist nicht auf repressive Maßnahmen
- -------------------------------------------
- zurückzuführen."
- --------------
- "FF
- -64-
-
-
-
- Diese Aussagen von Experten die sich intensiv mit
- den Auswirkungen der gegenwärtigen Drogenpolitik
- und der darauf fußenden Gesetze auseinandergeserzt
- haben können nicht ignoriert werden. Das Versagen
- der repressiven Drogenpolitik -orientiert an der
- gesetzlichen Zielvorstellung Konsum und Verkehr
- mit dem Mittel des Strafrechts zu kontrollieren-
- ist offensichtlich. Wenn die Politik -aus welchen
- Gründen auch immer- hiervor die Augen verschließt,
- so können das die Gerichte angesichts ihrer
- Verpflichtung die Verfassung zu achten und
- anzuwenden (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht. Sie müssen
- sich mit den praktischen Auswirkungen der Gesetze
- auseinandersetzen und unter Berücksichtigung
- sachverständiger Ausführungen prüfen, ob die
- angewendeten Mittel geeignet sind, den angestreb-
- ten Zweck zu erreichen.
-
-
- Die vorgenannten Aussagen von Fachleuten beziehen
- sich auf das Betäubungsmittelgesetz insgesamt. Bei
- den Cannabisprodukten ist unter dem Gesichtspunkt
- der Geeignetheit des Mittels (hier Strafandrohung)
- noch auf folgendes hinzuweisen:
- Die Bestrafung von Cannabiskonsumenten ist nach
- überzeugung der Kammer sogar kontraproduktiv und
- dazu angetan. die Anzahl der Konsumenten zu
- erhöhen. Sowohl in den Niederlanden als auch in
- Italien und in manchen Staaten der USA hat die
- faktische Entkriminalisierung des Besitzes und
- Konsums von Cannabis nicht zu einer Ausweitung des
- "FF
-
- -65-
-
-
-
- Konsums geführt. Vielmehr ist der Konsum in diesen
- Ländern zurückgegangen. Der niederländische Straf-
- rechtsprofessor Dr. C. F. Rüter hat am 20. Juni
- 1991 in Amsterdam anläßlich einer Fachdiskussion
- mit Juristen aus Schleswig-Holstein in einem
- Referat, dessen insoweit maßgeblicher Inhalt in
- der, Hauptverhandlung erörtert worden ist, darge-
- legt, daß sich die Zahlen der Konsumenten von
- Cannabisprodukten seit der faktischen Entkri-
- minalisierung im Jahre 1976 deutlich zurückge-
- bildet hätten. Im Jahre 1976 hätten 10 % der
- 18-jährigen Niederländer Cannabis konsumiert, 1984
- dagegen nur 4,2 %. Die neuesten Zahlen aus dem
- Jahre 1990 hätten einen Cannabiskonsum von ledig-
- lich 2 % ergeben.
-
-
- In den bereits zitierten Mitteilungen des Hambur-
- ger Senats zu einem Konzept zur Drogenbekämpfung
- heißt es (a.a.O., Seite 17):
-
-
- "Zwar hat die faktische Entkriminalisierung des
- Besitzes und Konsums von Cannabis zum Eigenver-
- brauch und des Kleinhandels in den Niederlanden,
- in Italien und in manchen Staaten der USA dortigen
- Berichten zufolge nicht zu einer Ausweitung des
- Konsums geführt. Man hat dort eher den Eindruck,
- daß der Verlust des Reizes des Verbotenen und des
- Symbolwertes für eine alternative Kultur eher das
- Interesse der jungen Leute an dieser Droge ver-
- ringert hat".
- "FF
-
- -66-
-
-
-
- Der Sachverständige Dr. Barchewitz hat, mit diesen
- Feststellungen und Bewertungen konfrontiert,
- erklärt, daß eine solche Erklärungsalternative
- sehr naheliegend sei. Es sei eine Erfahrungstat-
- sache, daß der Reiz des Verbotenen -insbesondere
- wenn mit der Einnahme des verbotenen Mittels nur
- eine relative Gefährlichkeit einhergeht-psycholo-
- gisch eher einen Anreiz als eine abschreckende
- Wirkung erzeuge. Dies korrespondiere mit der
- soziologischen Beobachtung, daß Cannabis das
- Immage als "Protestdroge" der Jugend habe bzw.
- gehabt habe (vgl. Christian von
- Wolffersdorff-Ehlert, in Scheerer-Vogt, a.a.O.,
- Seite 374), Insbesondere in den Zeiten der
- Hippiebewegung in den USA habe Marihuana eine
- gesellschaftssymbolische Rolle eingenommen und als
- Protestsymbol gewirkt (vgl. Christian von
- Wolffersdorff-Ehlert, Seite 313 ff., insbesondere
- Seite 376).
-
-
- Im nationalen Rauschgiftbekämpfungsplan der
- Bundesregierung findet sich im Rahmen einer
- Situationsanalyse ein weiteres Argument dafür, daß
- die Bestrafung des Drogenkonsums ohne Einfluß auf
- den Einstieg oder den Ausstieg aus dem Drogenkon-
- sum ist. Für den Bereich des Ausstiegs bzw. der
- Beendigung des Drogenkonsums heißt es in einer
- Situationsanalyse (nationaler Rauschgiftbe-
- kämpfungsplan der Bundesregierung 1990, Seite 13):
- "FF
-
-
- -67-
-
-
-
- äls Grund für die Beendigung des Drogenkonsums
- ist nach wie vor die Aussage, "Ich wollte das
- Mittel einmal kennenlernen, aber jetzt weiß ich
- Bescheid", mit 65 % am stärksten vertreten. Die
- Aussage "die Wirkung entspricht nicht den Erwar-
- tungen" ist von 19 auf 27 % gestiegen."
-
-
- Diese Umfrage belegt, daß zumindest für die Frage
- der Beendigung des Drogenkonsums eine mögliche
- Bestrafung keine relevante Rolle spielt. Die
- Kammer geht daher davon aus, daß dies -von Einzel-
- fällen abgesehen- grundsätzlich auch für den
- Einstieg in den Drogenkonsum gilt.
-
-
- Nach alledem steht zur überzeugung der Kammer
- fest, daß die hier unter Strafe gestellte Hand-
- lungsalternative des Betäubungsmittelgesetzes
- -selbst bei unterstellter Gefährlichkeit der
- Cannabisprodukte- nicht geeignet ist, den Konsum
- und Verkehr mit diesen Produkten unter Kontrolle
- zu bringen.
-
-
- (3) Nach Auffassung der Kammer ist die Bestrafung auch
- ----------
- nicht erforderlich, um Konsum und Verkehr von Be-
- ------------
- täubungsmittel zu regulieren. Dies gilt zumindest
- nach überzeugung der Kammer für die Kontrolle und
- den Verkehr von Cannabisprodukten, Im Hinblick auf
- die nur relative Gefährlichkeit der Cannabispro-
- dukte ist eine Bestrafung nicht erforderlich, um
- "FF
-
- -68-
-
-
-
- die Restgefährlichkeit in einer für den Einzelnen
- ausreichenden Weise zu verdeutlichen. Hier reicht
- nach Auffassung der Kammer eine entsprechende Auf-
- klärung als weniger einschneidende Maßnahme aus.
- Daneben könnte der Gesetzgeber -als milderes
- Mittel im Verhältnis zur Strafandrohung die
- Abgabe von Cannabisprodukten über eine ärztliche
- Verordnung regeln. Damit wäre zunächst die Mög-
- lichkeit gegeben, den Cannabiskonsumenten im
- Rahmen der ärztlichen Verordnung zu beraten. Durch
- eine apothekenpflichtige Abgabe wäre der Cannabis-
- konsument zudem gegen eine Versetzung des Stoffes
- geschützt. Darüber hinaus könnte in einem Bei-
- packzettel auf die speziellen Risiken und Unver-
- träglichkeiten hingewiesen werden.
-
-
- Nach Auffassung der Kammer wären diese Maßnahmen
- -allein oder im Verbund- als mildere Mittel (im
- Verhältnis zur Scrafandrohung) ausreichend um der
- hier festgestellten Restgefährlichkeit der
- Cannabisprodukte in angemessener Weise Rechnung
- zu tragen. Eine Bestrafung ist nicht erforderlich.
- um dieser Restgefährlichkeit wirkungsvoll begegnen
- zu können.
- Ist die Bestrafung nicht erforderlich im Sinne des
- Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, dann ist sie mit
- Artikel 2 Absatz 1 GG unvereinbar.
- "FF
-
- -69-
-
-
-
- (4) In jedem Fall ist die Bestrafung derjenigen, die
- Cannabisprodukte lediglich zum Eigenverbrauch er-
- werben oder besitzen oder die (wie vorliegend)
- Cannabisprodukte in einer Menge abgeben, die
- lediglich dem Eigenverbrauch dienen unverhältnis-
- -------------
- mäßig, d.h. sie steht von ihrer Zielrichtung her
- -----
- in keinem angemessenen Verhältnis zu dem Gewicht
- und der Bedeutung des hier berührten Grundrechts
- auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gemäß
- Artikel 2 Absatz 1 GG (vgl. oben S. 48 ff) Hierzu
- gelten im einzelnen folgende überlegungen:
-
-
- (a) Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist u.a. dann
- -----------------------------
- verletzt, wenn sich bei einer Saldierung zwischen
- den Konsequenzen und Auswirkungen des eingesetzten
- Mittels im Hinblick auf den verfolgten Zweck
- ergibt, daß die Schäden, die mit dem verwendeten
- Mittel eintreten, größer sind als der dadurch
- erzielte Nutzen. Im Rahmen einer solchen
- Schaden-Nutzen-Analyse ergibt sich sowohl unter
- spezialpräventiven als auch unter general-
- präventiven Gesichtspunkten folgende Bilanz einer
- strafbewährten Repressionspoliti (Auszug aus dem
- Bericht der Enquete-Kommission "Bekämpfung der
- Drogensucht"; Bürgerschaft der Freien und Hanse-
- stadt Hamburg, 13. Wahlperiode, Drucksache 13/7700
- Seite 65):
- "FF
-
- -70-
-
-
-
- "Die spezialpräventive Bilanz
-
-
- Was vor allem die jugendlichen Konsumenten illegaler
- Drogen angeht, sind eher kontrapräventive Effekte zu
- befürchten:
-
- - Konsumenten illegaler Drogen haben in der Regel kein
- Schuldbewußtsein und empfinden sich nicht als straf-
- würdige, Dritte schädigende Täter. Die Strafbedrohung
- und -verfolgung wird daher oft als ungerechte
- Reglementierung abgelehnt und ignoriert.
-
-
- - Die gesetzlichen Konsumverbote einer Gesellschaft, die
- sonst die Freiheit des Konsumenten beschwört und den
- auch exzessiven und im Falle von Nikotin auch Dritte
- (Passivraucher) schädigenden Konsum legaler Drogen
- billigt und zu ihm animiert wird als
- doppelmoralischer ungerechtfertigter Eingriff in die
- persönliche Autonomie erlebt und mißbilligt.
-
-
- - Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß die Attrak-
- tivität des Verbotenen eine verführerische Aufforde-
- rung zum Weitermachen mit sich bringt.
-
-
- - Die Kriminalisierung des Drogenkonsumenten beschert
- nicht wenigen von ihnen schon im Probierstadium früh-
- zeitige Stigmatisierungen und Ausgrenzungen.
-
-
- - Sie verhindert über die Verbreitung von Angst vor
- Entdeckung und Bestrafung die Artikulation von Hilfs-
- bedürfnissen und die Wahrnehmung von Hilfen seitens
- Drogengefährdeter und- abhängiger. Sie erschwert so
- "FF
-
- -71-
-
-
-
- gegebenenfalls notwendige helfende Aufmerksamkeit oder
- integrierende Fürsorge der familiären, schulischen,
- beruflichen und sonstigen sozialen Umgebung.
-
-
- - Sie kann schließlich einen sich wechselseitig
- verstärkenden eskalativen Prozeß von zunehmender
- Identifizierung mit der Außenseiterrolle und dem
- subkulturellen Drogenmilieu einerseits und von fort-
- schreitender gesellschaftlicher Desintegration
- andererseits provozieren und so ein Abgleiten in die
- Drogenabhängigkeit noch befördern.
-
-
- Drogenabhängige sind nach Auffassung vieler Experten auch
- der Hamburger Justizbehörde durch Strafverfolgung und Re-
- strafung nur in seltenen Fällen zur dauerhaften Abstinenz
- zu bewegen. Zahlreiche Untersuchungen belegen:
-
-
- - Mit Hilfe justizieller Therapieauflagen konnte eine
- höhere Therapieeffizienz offenbar nicht erreicht
- werden. Unter justiziellem Druck aufgenommene Entzugs-
- und Entwöhnungshilfen werden oft als überwiegend
- fremdbestimmte und die eigene Autonomie verletzende
- Eingriffe abgewehrt, abgebrochen bzw. unzureichend ge-
- nutzt.
-
-
- - Die soziale und berufliche Wiedereingliederung vorerst
- rückfälliger Klienten von Entgiftungs- und Therapie-
- einrichtungen wird durch die Kriminalisierung der
- Rückfälle massiv beeinträchtigt.
- "FF
-
- -72-
-
-
-
- Die Verhältnismäßigkeit der Kriminalisierung
- --------------------------------------------
-
-
- Statt zu general- und spezialpräventiven Erfolgen hat der
- drogenpolitische Kurs der massiven Kriminalisierung der
- Drogenkonsumenten vor allem bei den Abhängigen von soge-
- nannten harten Drogen zu einer die Misere der
- Abhängigkeit noch verschärfenden enormen körperlichen
- psychischen und sozialen Verelendung geführt.
- Das durch das Strafverfolgungsrisiko immer noch hochge-
- haltene Preisniveau hat insbesondere die Heroinabhängigen
- vielfach in Beschaffungskriminalität, -prostitution und
- Beschaffungsanstrengungen getrieben bei denen häufig
- kein Raum mehr für die Aufrechterhaltung von nicht durch
- Drogen bestimmten Aktivitäten und sozialen Beziehungen
- bleibt. Die mit der Kriminalisierung verbundenen stigma-
- tisierenden und ausgrenzenden gesellschaftlich Reaktionen
- haben nicht selten den Verlust von familiären Bindungen,
- Freundschaften ,von Ausbildungs- und Arbeitsplätzen zur
- Folge, d.h. soziale Desintegration und Deklassierung.
-
-
-
- Der Rückgriff vieler Heroinabhängiger bei Finanzierungs-
- und Versorgungsengpässen auf Alkohol, Barbiturate oder
- andere in Kombination mit Opiatkonsum nicht selten
- lebensgefährlicher Ausweichdrogen ist oft indirektes
- Resultat der Kriminalisierung, die zu Angebotsverknappung
- oder Preiserhöhung führt. Die durch die Illegalisierung
- hochgetriebenen Profitchancen für Heroinhändler animiert
- diese immer wieder zu bisweilen lebensgefährlichen Stoff-
- streckungen bzw. Beimischungen, Ein nicht unerheblicher
- Anteil der Drogentoten dürfte auf diese Umstände zurück-
- zuführen sein.
- "FF
-
- -73-
-
-
-
- Die ständige Angst vor Entdeckung, Ablehnung und Bestra-
- fung hat im Zusammenspiel mit dem bereits aufgezählten
- Auswirkungen der Kriminalisierung den subjektiven und
- objektiven Spielraum vieler Abhängiger für elementare
- Selbstfürsorge und hygienische Vorsicht im Lebenswandel
- (Essen, Bekleidung, Körperpflege) und bei Drogenkonsum,
- z.B. was die Vermeidung von Aidsinfektionen, Abszessen
- etc. betrifft, angeht, enorm eingeengt. Diese Angst hält
- nicht selten Drogenabhängige davon ab, auch dringend er-
- forderliche ärztliche oder psychosoziale Hilfe aufzu-
- suchen. Sie fördert auch soziale Rücksichtslosigkeit wie
- Drogenkonsum in den Grünanlagen von Parks und
- Kinderspielplätzen oder dort das Wegwerfen von gebrauch-
- ten Spritzbestecken zur Entledigung von strafrechtlich
- verwertbaren, belastendem Beweismaterial.
-
-
-
- Vor dem Hintergrund der general- und spezialpräventiven
- Ineffektivität bis Kontraproduktivität der Kriminalisie-
- rung der Drogenkonsumenten ist die Repression gegenüber
- den Drogenkonsumenten aus ethisch-humanitärer Sicht nicht
- mehr zu verantworten, Dafür sprechen auch die hohe ge-
- sellschaftliche Belastung durch das beschaffungskriminel-
- le Verhalten vieler Drogenabhängiger und die hohen ge-
- sellschaftlichen Kosten, die die Kriminalisierung der
- Konsumenten und die Folgen der Kriminalisierung mit sich
- bringen." (Ende des Zitats)
- "FF
-
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-
-
-
- Die Kammer hat den Sachverständigen die vorgenannten
- Zitate vorgehalten. Beide haben sich vorbehaltlos hinter
- diese Aussagen gestellt. Dabei kommt der Aussage des
- Sachverständigen Dr. Barchewitz aufgrund seiner prakti-
- schen Erfahrung eine besondere überzeugungskraft zu. Die
- Kammer hat im Rahmen der Erörterungen mit dem Sach-
- verständigen keine Argumente gefunden, die diese er-
- schreckende Schaden-Nutzen-Bilanz in Frage stellen
- könnten, Die Kammer ist der Auffassung, daß diese ein-
- leuchtenden und nachvollziehbaren Argumente für sich ge-
- sehen schon ausreichend sind, festzustellen, daß die
- Bestrafung von Handlungsweisen, die auf die Befriedigung
- des Eigenkonsums abzielen, verfassungsrechtlich wegen
- Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsgebot im Rahmen
- des Art. 2 Absatz 1 GG nicht haltbar ist - unabhängig von
- der Frage ob es sich hierbei um "weiche" oder "harte"
- Drogen handelt.
-
-
- Dies gilt um so mehr, als der Sachverständige Dr.
- Barchewitz ausgeführt hat, daß Drogenabhängige als krank
- im medizinischen Sinne anzusehen sind. Einen kranken
- Menschen, dessen Ausgangspunkt für die Erkrankung sich
- schon meist in einer sozialen oder sonstigen seelischen
- Notlage findet, mit der Bestrafung noch weiter in
- seelische und persönliche Nöte zu treiben, stellt einen
- Verstoß gegen das rechtstaatliche übermaßverbot dar.
-
-
- Wenn ein Drogenabhängiger krank ist, dann muß die staat-
- liche Politik dafür Sorge tragen, daß er von, dieser
- Krankheit geheilt oder ihm zumindest Linderung verschafft
- wird.
- "FF
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- -75-
-
-
-
- Die Kriminalisierung von Kranken ist jedoch kein Mittel
- der Gesundheitspolitik Kranke werden nicht geheilt, wenn
- man sie bestraft oder in den Strafvollzug steckt.
- Vielmehr werden sie durch die dadurch entstehende Krimi-
- nalisierung über die Krankheit hinaus sozial geschädigt.
- Es ist inhuman, Personen, die ohnehin schon aus erheb-
- lichen persönlichen Nöten oder sonstigen Lebensdefiziten
- zu Drogen greifen, über die bisherige Not hinaus in
- weitere Not zu stürzen, indem man sie in die Gefängnisse
- bringt. Abgesehen davon, daß hierdurch eine zukünftige
- Reintegration wegen der Vorstrafe und der damit verbun-
- denen sozialen Abstempelung erheblich erschwert wird,
- werden sie in den Vollzugsanstalten noch tiefer in ihre
- Drogenproblematik verstrickt. In allen Justizvollzugsan-
- stalten sind Drogen erhältlich. Die Gefahr einer Aidsin-
- fektion wächst erheblich. Manche Strafgefangene führen
- sogar Kugelschreiberminen in die Venen ein, um sich so
- einen ßchuß" zu setzen. Dieses Elend ist ein Ergebnis
- der Verbotspolitik. Sie ist mit dem rechtsstaatlichen
- Grundsatz des Verhältnismäßigkeitsgebotes unvereinbar.
-
-
- Letztlich ist im Rahmen der vorliegend angestellten
- Schaden-Nutzen-Analyse auch zu berücksichtigen, ob die
- hier festgestellte Restgefährlichkeit der
- Cannabisprodukte den Aufwand rechtfertigt, den Polizei
- und Justiz leisten müssen, um Cannabiskonsumenten zu
- verfolgen. Bundesweit wurden z.B. im Jahre 1989 94.000
- Verstöße gegen das Betäubungsmittelgesetz registriert
- "FF
-
- -76-
-
-
-
- (vgl. Jahrbuch Sucht 1991, a.a.O., S. 37, 49). Hiervon
- entfielen 33.251 Verstöße auf den Cannabiskonsum (vgl.
- Jahrbuch Sucht 1991, a.a.O., S. 49). Im Hinblick auf die
- hier festgestellte geringe Gefährlichkeit der Cannabis-
- produkte erscheint es unverhältnismäßig, weiterhin die
- ohnehin sehr knappen Ressourcen von Polizei und Justiz zu
- vergeuden, um Cannabiskonsumenten zu verfolgen. Nach den
- Feststellungen der Hamburger Justizbehörde sind die
- Ressourcen der dortigen Staatsanwaltschaft durch
- Bagatellverfahren gegen Drogenkonsumenten in Höhe von 20
- % gebunden (vgl. Bericht der Enquetekommission
- "Bekämpfung der Drogensucht", a.a.O., Seite 65). Die
- dadurch gebundenen Ressourcen der Justiz könnten
- zweckmäßiger im Kampf gegen Rauschgifthändler,
- Wirtschafts- und Umweltkriminelle eingesetzt werden.
-
-
-
-
- (b) Nach Auffassung der Kammer verstößt es weiterhin gegen
- den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, wenn der Gesetz-
- -----------------------------
- geber "weiche" und "harte" Drogen auf eine Stufe
- stellt obwohl unter dem Gesichtspunkt der Gefähr-
- lichkeit eine offensichtliche qualitative Unter-
- scheidung vorzunehmen ist.
- "FF
-
- -77-
-
-
-
- Es wurde bereits dargelegt, daß Cannabisprodukte
- lediglich eine relative und nicht dringende bzw.
- ernstliche Gefährdung menschlichen Lebens darstellen.
- "Harte" Drogen wie Kokain und Heroin entfalten hin-
- gegen eine qualitativ andere Wirkung. Während bei
- Haschisch kein Todesfall bekannt ist, betrug die
- Anzahl der Drogentoten, die Heroin und Kokain konsu-
- miert haben, im letzten Jahr ca. 2.000. Darüber hinaus
- führt der Konsum von Kokain und Heroin zu einer
- körperlichen Abhängigkeit und in vielen Fällen auch
- zur sozialen Verelendung, Auch die Aidsgefahr ist
- wegen der Applikationsform des Spritzens bei
- Heroin-und Kokainabhängigen naheliegend, während sie
- bei den Cannabisprodukten nicht gegeben ist. Im
- Hinblick darauf, daß Eingriffe in elementare Bereiche
- der freien Entfaltung der Persönlichkeit nur dann
- gerechtfertigt sind, wenn hierfür ausreichende und
- gewichtige Gründe vorliegen und das Strafrecht als
- ültima ratio" des Staates zu einer weiteren Einengung
- des gesetzgeberischen Gestaltungsspielraumes führt,
- ist die Strafrechtliche Gleichsetzung von weichen und
- harten Drogen verfassungsrechtlich nicht hinnehmbar.
- Der Gefährlichkeitsgrad für den einzelnen ist so
- Signifikant unterschiedlich, daß es unter dem Ge-
- sichtspunkt der Verhältnismäßigkeit verfassungsrecht-
- lich geboten ist, diese qualitative Abstufung auch
- gesetzgeberisch zum Ausdruck zu bringen. Dies wäre
- z.B. dadurch möglich gewesen, die sich auf den
- Cannabiskonsum beziehenden Handlungsweisen als Ord-
- nugswidrigkeitentatbestände einzustufen.
- "FF
-
- -78-
-
-
-
-
- (c) Des weiteren ist es nach der überzeugung der Kammer
- unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten unver-
- ------
- hältnismäßig, wenn der Gesetzgeber es unterläßt, die
- ------------
- verschiedenen Handlungsalternativen, die eine Straf-
- barkeit nach dem Betäubungsmittelgesetz begründen, zu
- differenzieren. Unter Berücksichtgigung der nur
- relativen Gefährlichkeit der Cannabisprodukte ist es
- nach Auffassung der Kammer unverhältnismäßig, das
- Handeltreiben in größeren Mengen sowie die Einfuhr in
- größeren Mengen ebenso mit Strafe zu bedrohen wie den
- bloßen Besitz einer Konsumeinheit oder Handlungen, die
- -wie im vorliegenden Fall- lediglich darauf abzielen,
- ohne Gewinnabsicht den Besitz an einer einzigen
- Konsumeinheit zu verschaffen.
-
-
- Berücksichtigt man die Aussagen der Sachverständigen,
- die die Kammer gehört hat, wonach der gelegentliche
- Konsum von Cannabisprodukten genau so ungefährlich ist
- wie der gelegentliche Schluck Wein, dann fragt sich,
- welche Legitimation der Gesetzgeber hat, eine solche,
- für den Einzelnen erkennbar ungefährliche Verhaltens-
- weise mit dem schärfsten Mittel staatlicher Sanktion
- -nämlich dem Strafrecht- zu bekämpfen. Der Staat hat
- nach unserer Verfassung nicht das Recht, mit dem
- Mittel des Strafrechts seinen Bürgern ein vernünftiges
- und den Einzelnen in keiner Weise schädigendes Ver-
- halten vorzuschreiben. Es erscheint selbstverständ-
- lich, daß der Staat seinen Bürgern z.B. nicht - und
- schon gar nicht mit den Mitteln des Strafrechts
- vorschreiben darf, während der Winterzeit nur mit
- Mantel und Hut oder Mütze auf die Straße zu gehen. Ein
- solches Gebot erscheint abwegig, obwohl das Gemein-
- "FF
-
- -79-
-
-
-
- wesen hierfür gute Gründe anführen könnte: Vorkehrung
- gegen grassierende grippale Infekte, die die Ge-
- sundheit des Einzelnen erheblich schwächen und die
- Kraft der Volkswirtschaft schmälern könnten. Es ließe
- sich auch daran denken, daß der Staat seinen Bürgern
- vorschreibt, gesundheitsbewußt zu leben und insbeson-
- dere solche Lebensmittel zu meiden, die die Gesundheit
- gefährden können (z.B. Süßstoffe).
-
-
- Es ließen sich noch weitere Beispiele bilden, bei
- denen unmittelbar erkennbar ist, daß der Staat gerade
- im Hinblick auf das Recht der freien Entfaltung der
- Persönlichkeit nicht das Recht hat - insbesondere mit
- dem Mittel des Strafrechts -, Verhaltensweisen, die
- den Kern menschlicher Selbstbestimmung zuzurechnen
- sind, allein deswegen zu unterbinden, weil sie den
- Einzelnen schädigen. Es muß grundsätzlich der Ent-
- scheidung des Einzelnen anheimgestellt werden, ob er
- die mit seinem Verhalten verbundenen Eigenschädigungen
- hinnehmen will oder nicht.
-
-
- Der oberste Gerichtshof des Bundesstaates von Indiana
- hat hierzu im Jahre 1855 im Rahmen einer Entscheidung
- über die Prohibition von Alkohol folgendes ausgeführt:
- "FF
-
- -80-
-
-
-
- "Wir sind der Meinung, daß dieser Grundsatz im vorlie-
- genden Fall Anwendung finden muß, daß das Recht auf
- Freiheit und das Streben nach Glück, das von der
- Verfassung garantiert ist, für jeden Einzelnen das
- Recht begründet, zu entscheiden, was er essen und
- trinken will kurz gesagt, seine Getränke auszusuchen,
- sofern er sie herstellen oder in seiner Umgebung
- erhalten kann, und daß die Gesetzgebung ihm dieses
- Recht nicht nehmen darf. Wenn die Verfassung den
- Menschen noch nicht einmal dieses Recht sichern kann
- dann schützt sie überhaupt nichts, das einigen Wert
- hat. Wenn die Menschen in ihren Trinkgewohnheiten der
- Gesetzgebung unterworfen sind, dann kann man sie auch
- einer Kontrolle ihrer Kleidung unterwerfen und der-
- jenigen Stunden,. in denen sie schlafen dürfen oder
- wachsein, müssen. Und wenn die Menschen es nicht
- schaffen, ihre eigenen Getränke auszusuchen, dann sind
- sie genauso unfähig, irgendetwas anderes in ihrem
- Leben zu entscheiden und sollten in den Zustand der
- Unmündigkeit gesetzt werden und Bestellt unter die
- Vormundschaft staatlicher Beamter für die Luxuskon-
- trolle. Elogen auf die menschliche Würde sollten dann
- unterbleiben und die Lehre von der Selbstverwaltung
- als irreführender Schnörkel erklärt werden. Wenn die
- Regierung alles verbieten kann, wie es ihr gefällt,
- dann kann sie auch verbieten, kaltes Wasser zu trin-
- ken. Kann sie das ? Wenn nicht, warum nicht ?...
- Es ist also klar, wenn man dem erleuchteten Psalmisten
- (Ps. 104) glauben darf, daß der Mensch geschaffen
- wurde, zu lachen so gut wie zu weinen, und daß diese
- anregenden Getränke vom Allmächtigen ausdrücklich
- dafür ausersehen sind, um seine Heiterkeit und sein
- Vergnügen in Gesellschaft zu befördern. Und für diesen
- "FF
-
- -81-
-
-
-
- Zweck hat die Welt sie immer benutzt. Sie haben immer,
- in der Sprache einer anderen Stelle der Heiligen
- Schrift, starke Getränke demjenigen gegeben, der
- erschöpft war, und Wein an die mit schwerem Herzen..."
- (zitiert aus: Uwe Wesel, Recht und Gewalt, Berlin
- 1989, S. 177).
-
-
- Diese klaren und überzeugenden Worte des obersten
- Gerichtshofs von Indiana verdeutlichen auf welcher
- Ebene des Spannungsverhältnisses zwischen den Frei-
- heitsrechten des Einzelnen und der Regelungsbefug-
- nissen des Staates der vorliegend zu entscheidende
- Fall angesiedelt ist. Derjenige, der z.B. den streß-
- bedingten Anforderungen des Alltags und der Gesell-
- schaft zu entfliehen sucht und sich gelegentlich
- (einmal in der Woche) zurückzieht, seinen "joint"
- raucht und dabei Musik hört, wird dafür bestraft.
- Dies, obwohl nach den überzeugenden Ausführungen der
- Sachverständigen in solchen Fällen nicht die geringste
- Gefährlichkeit für den Konsumenten besteht. Nicht
- anders liegt die hier zu beurteilende Fallkonstella-
- tion: Die Angeklagte hat ihrem Mann lediglich -ohne
- eine irgendwie geartete Gewinnabsicht- eine Konsumein-
- heit zur Verfügung gestellt, Diese Konsumeinheit hätte
- dem Ehemann der Angeklagten Gelegenheit geboten, kurz-
- fristig seiner tristen Gefängnisumgebung für die Dauer
- des "High-Sein" zu entfliehen. Die Kammer kann in
- diesem Vorgang kein irgendwie geartetes strafrecht-
- liches Unrecht erkennen. Selbst wenn -entgegen den von
- der Kammer gewonnenen Erkenntnissen über die Gefähr-
- lichkeit des Cannabiskonsums- von einer größeren Ge-
- fährlichkeit für die Gesundheit des Einzelnen auszu-
- gehen wäre, so erscheint es unter dem Gesichtspunkt
- des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (hier Gebot der
- Differenzierung) unhaltbar, das Handeltreiben in
- größeren Mengen sowie die Einfuhr in größeren Mengen
- "FF
-
- -82-
-
-
-
- mit den hier genannten Verhaltensweisen auf eine Stufe
- zu stellen, indem beide mit Strafe bedroht werden.
- Diejenigen, die von einer größeren Gefährlichkeit des
- Cannabiskonsums ausgehen, könnten vielleicht argumen-
- tieren, daß diejenigen, die mit Gewinnabsicht durch
- Handeltreiben oder Einfuhr größerer Mengen für eine
- Vielzahl von anderen Personen Gefahren verursachen, zu
- bestrafen wären. Sie werden aber -unter Berücksichti-
- gung der verfassungsrechtlichen Ausgangsbedingungen
- einen qualitativen Unterschied zwischen diesen beiden
- Verhaltensalternativen einräumen müssen. Nach Auf-
- fassung der Kammer führt dieser Unterschied in jedem
- Fall dazu, die Fälle die lediglich auf Eigenkonsum
- abzielen unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßig
- keit aus der Strafrechtsandrohung herauszunehmen.
-
-
- Soweit der Gesetzgeber die hier offensichtlich er-
- forderliche Differenzierung in die strafrechtlichen
- Regulierungsmechanismen verlagert, indem er bei reinen
- Konsumtaten eine erleichterte Möglichkeit des Absehens
- von Strafe vorsieht (§ 29 Absatz 5 BtmG) bzw. erhöhte
- Strafrahmen für den Fall des Handeltreibens oder der
- Einfuhr von nicht geringen Mengen geschaffen hat, so
- reicht diese Differenzierung nach überzeugung der
- Kammer in verfassungsrechtlicher Hinsicht nicht aus.
- ----------------------
- In jedem Fall müssen nach Auffassung der Kammer nach
- Maßgabe der dargelegten überlegungen unter dem Ge-
- sichtspunkt der Verhältnismäßigkeit Verhaltensweisen,
- die lediglich darauf abziehen einen einmaligen Konsum
- ----------
- zu ermöglichen, ganz aus der Strafbarkeitsandrohung
- genommen werden.
- "FF
-
- -83-
-
-
-
- In diesem Zusammenhang verweist die Kammer ab-
- schließend darauf, daß die Rechtsprechung und auch die
- verfassungsrechtliche Literatur ohne nähere Begründung
- -wie Selbstverständlich-davon ausgehen, daß z.B. ein
- generelles Rauch-oder Alkoholverbot verfassungswidrig
- wäre (vgl. AK-Podlech, a.a.O., Art. 2 Absatz 1 Rdn.
- 50). Auch der bayr Verfassungsgerichtshof hat in
- einer Entscheidung vom 30. April 1987 (vgl. NJW 1987,
- Seite 2922) die Auffassung vertreten, daß ein
- generelles Rauchverbot mit Artikel 2 Absatz 1 Grund-
- gesetz unvereinbar wäre. Berücksichtigt man die hier
- bereits festgestellte Gefährlichkeit der Cannabis-
- produkte, die deutlich unter den individuellen und
- gesamtgesellschaftlichen Gefahren des Rauchens oder
- des Alkoholgenusses liegt, dann wird die
- Irrationalität des strafbewehrten Verbotes, das auch
- Handlungen unterbinden will, die lediglich auf den
- einmaligen Konsum abzielen, besonders deutlich.
-
-
-
-
-
- III. Verstoß gegen Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 Grundge-
- ------------------------------------------------
- setz
- ----
-
-
- Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
- richts ist der körperlichen Unversehrtheit des Men-
- schen ein besonders hoher Wert beizumessen (BVerGE 16,
- 201 ff.; 17, 117 ff.; 27, 219, 351; 32, 379). Das in
- Artikel 2 Absatz 2 GG enthaltene Grundrecht erschöpft
- sich nicht nur in Abwehrrechten gegenüber dem Staat,
- sondern begründet eine Schutzpflicht des Staates und
- seiner Organe für das geschützte Rechtsgut, deren
- Vernachlässigung von den Betroffenen mit der Ver-
- fassungsbeschwerde angegriffen werden kann. In seinem
- "FF
-
- -84-
-
-
-
- klassischen Gehalt schützt das Recht auf körperliche
- Unversehrtheit vor gezielten staatlichen Eingriffen,
- wie Zwangsversuchen an lebenden Menschen Zwangs-
- sterilisationen und ähnlichem (vgl. BVerfGE 79, 201).
-
-
- Nach Auffassung der Kammer liegt ein Verstoß gegen
- Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG vor, weil der Bürger der
- sich im Rahmen seines grundrechtlich geschützten
- "Rechts auf Rausch" gemäß Artikel 2 Absatz 1 GG
- berauschen will, durch das strafrechtliche Verbot,
- Cannabisprodukte zum Eigenverbrauch zu erwerben oder
- zu erlangen, in die gesundheitsschädlichere
- Alternative, nämlich in den nicht strafbewehrten
- Alkoholkonsum gezwungen wird. Es ist bereits dargelegt
- und steht zur überzeugung der Kammer fest, daß mit dem
- Alkoholkonsum, der auf Berauschung abzielt, eine
- -----------
- größere Gesundheitsgefährdung verbunden ist, als der
- Rauschzustand, der über die Einnahme von
- -------------
- Cannabisprodukten erzeugt wird. Geht man von den hier
- festgestellten Gefährlichkeitsgraden der
- Cannabisprodukte und des Alkohols aus, dann ergibt
- sich aufgrund der unterschiedlichen Behandlungsweise
- des Gesetzgebers unter dem Gesichtspunkt des Artikel 2
- Absatz 2 Satz 1 folgende absurde und verfassungswi-
- drige Alternative: Wer sich berauschen will, hat die
- Wahl zu treffen, ob er es legal, aber gefährdeter oder
- weniger schädlich, dafür aber illegal tut. Die Ver-
- fassungswidrigkeit unter dem Gesichtspunkt des
- "FF
-
- -85-
-
-
-
- Schutzes der körperlichen Unversehrtheit des Menschen
- tritt hierbei offen zutage. Es ist ein mit Artikel 2
- Absatz 2 Satz 1 GG nicht zu vereinbarender Tatbestand,
- wenn der Gesetzgeber dem Rauschwilligen bei Strafan-
- drohung untersagt, daß für seine Gesundheit erheblich
- weniger schädliche Rauschmittel im Verhältnis zu
- anderen legalen Rauschmittel zu nehmen.
-
-
-
- IV. Internationale Abkommen
- -----------------------
-
-
- Der hier von der Kammer festgestellte Verstoß gegen
- grundgesetzliche Vorschriften wird auch nicht durch
- internationale Abkommen über Suchtstoffe denen die Bun-
- desrepublik beigetreten ist, "geheilt". Internationale
- Abkommen, bei denen die Bundesrepublik Vertragspartner
- ist und die gegen unsere Verfassung verstoßen, können
- keine Bindungswirkung entfalten. Sie sind wegen Verstoßes
- gegen die Verfassung unwirksam (BVerfGE 12, 288; 30,
- 280). Deswegen kann z.B. die sogenannte Single Convention
- von 1961 keine Verpflichtung für den Gesetzgeber enthal-
- ten, in Ausführung dieser Vereinbarung verfassungswidrige
- Gesetze zu erlassen. Dies ergibt sich nicht nur aus
- unserer Verfassung selbst (Art. 20 Abs. 3 GG), sondern
- auch aus der Single Convention. Dort heißt es in Artikel
- 36 (Strafbestimmung): "Jede Vertragspartei trifft
- vorbehaltlich ihrer Verfassungsordnung...."
-
-
- Die Single Convention stellt demnach die Ausführung der
- in der übereinkunft festgehaltenen Verpflichtungen aus-
- drücklich unter den Vorbehalt der jeweiligen nationalen
- Verfassungsordnung.
- "FF
-
- -86-
-
-
-
- Darüber hinaus ist in diesem Zusammenhang darauf hinzu-
- weisen, daß die Single Convention auch nicht zur Bestra-
- fung des Konsums der Stoffe zwingt, die zum Gegenstand
- ------
- der Kontrolle gemacht werden (hierzu gehören auch die
- Cannabisprodukte). In Artikel 2 Absatz 5 b wird ausdrück-
- lich darauf verwiesen, daß jede Vertragspartei "im
- Hinblick auf die in ihrem Staat herrschenden Verhältnis-
- se" das Mittel wählen darf, daß sie für am geeignetsten
- ------------
- hält, um die Volksgesundheit und das öffentliche Wohl zu
- schützen. Es steht danach im Belieben des jeweiligen
- Vertragslandes, welches Mittel es für geeignet hält. um
- den Verkehr und den Konsum mit den unerwünschten Stoffen
- zu unterbinden. Dies muß nicht zwangsläufig die
- Bestrafung sein. Demgemäß heißt es im Artikel 36 des
- Abkommens:
-
- ".............
- b) Ungeachtet des Buchstabens a können die
- Vertragsparteien, wenn Personen, die Suchtstoffe
- mißbrauchen, derartige Verstöße begangen haben,
- entweder an Stelle der Verurteilung oder Bestrafung
- ------------------------------------------
- oder zusätzlich zu einer solchen vorsehen, daß diese
- Personen Maßnahmen der Behandlung, Aufklärung, Nach-
- behandlung, Rehabilitation und sozialen Wiederein-
- gliederung nach Artikel 38 Absatz 1 unterziehen."
-
-
- Diese Bestimmung belegt, daß der nationale Gesetzgeber
- durch internationale Abkommen nicht gezwungen ist, mit
- den Mitteln des Strafrechts Drogenkonsum zu bekämpfen.
- "FF
-
- -87-
-
-
-
-
-
- V. ZuSammenfassung/Verfassungskonforme Auslegung
- ---------------------------------------------
-
-
- Nach alledem steht zur überzeugung der Kammer
- fest, daß die vorliegend zur Anwendung kommenden
- Vorschriften der §§ 29 Absatz 1 Nr. 1 i.V.m. 1
- Absatz 1 i.V.m. Anlage I (hier: Cannabisharz
- (Haschisch)) Betäubungsmittelgesetz in der Hand-
- lungsalternative des Abgebens aus den unter den
- Punkten B. I.-III. aufgeführten Gründen gegen die
- dort aufgeführten Grundgesetzartikel verstoßen.
-
-
- äbhilfe" kann auch nicht mit dem Mittel der ver-
- fassungskonformen Auslegung geschaffen werden
- (vgl. dazu Zuck, Recht der Verfassungsbeschwerde,
- NJW-Schriftenreihe, 2. Auflage, 1987, S. 16 Rdz.
- 52 m.w.N.).
-
-
- Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsge-
- richts (BVerfGE 32, 383/384; 48, 45; 54, 273/274)
- ist ein Vorlageverfahren gemäß Artikel 100 Absatz
- 1 GG dann nicht zulässig, wenn eine
- verfassungskonforme Auslegung möglich ist. Eine
- solche verfassungskonforme Auslegung kommt dann in
- Betracht, wenn eine auslegungsfähige Norm nach den
- üblichen Interpretationsregeln mehrere Auslegungen
- zuläßt, von denen eine oder mehrere mit der
- Verfassung übereinstimmen, während andere zu einem
- verfassungswidrigen Ergebnis führen; solange eine
- Norm verfassungskonform ausgelegt werden kann und
- in dieser Auslegung sinnvoll bleibt> darf sie
- nicht für nichtig erklärt werden (vgl. BVerfGE 48,
- 45 m.w.N.).
-
-
- Die hier zur Anwendung kommenden Normen des Be-
- täubungsmittelrechts lassen keine verfassungskon-
- forme Auslegung im vorgenannten Sinne zu. Sie sind
- bei dem hier festgestellten Sachverhalt nach den
- üblichen Interpretationsregeln eindeutig und er-
- möglichen keine Auslegung, die zur Straffreiheit
- der Angeklagten führt.
- "FF
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- -88-
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-
-
- Die Kammer hat daher das Verfahren gemäß Artikel
- 100 Absatz 1 GG ausgesetzt um eine Entscheidung
- des Bundesverfassungsgerichts einzuholen.
-
- _____________
- gez. Neskovic
- "FF
-
-
-
-
-
-